Was wollen wir eigentlich?

Ich trete aus der Bar und es regnet. Eine Wohltat. Als könnte der Regen mir die Last von der Seele spülen, die mein Freund und seine Freunde soeben auf mich geladen haben. Wir tranken und diskutierten. An sich eine schöne und bereichernde Sache.

Doch ich spüre die Emotionen und den Frust meiner Gegenüber. Ihre Wut über ihre Steuerabgaben und den vom spanischen Volk finanzierten Reichtum der Königsfamilie. Also möchte ich ihnen helfen und erzählen, was mir damals half, solchen Frust loszuwerden. Oder besser gesagt loszulassen.

Ich lernte dank meiner Psychotherapeutin, endlich das zu finden, was ich mein Leben lang unbewusst gesucht hatte. Sinn und Erfüllung. Ich lernte, dass die Welt dafür nicht erst perfekt und gerecht werden muss. Dass ich dafür nicht alles erreichen muss, was ich mir vorgenommen habe.

Ich lernte, dass es viel näher liegt. Viel näher und doch so unerreichbar, wenn uns der Mut fehlt, in unbekannte und doch gefährlich vertraute Gefilde vorzudringen.

Ist das Gehirn schuld?

Alle wünschen sich ein neues System, doch nur wenige wagen es, ihr internes System neu zu programmieren. Das mag an der Beschaffenheit unseres Gehirns liegen, das Energie sparen möchte, wie Hirnforscher Gerald Hüther erklärt.

Doch woran liegt es, dass manche Menschen es dennoch wagen und schaffen? Dass diese Menschen auf einmal Erfüllung und Sinn finden, sich insgesamt als glücklich bezeichnen, obwohl sich die Welt nicht geändert hat?

Unser Gehirn ist vielleicht komplex und es stecken sicherlich viele Muster und Mechanismen dahinter. Doch wenn es einigen gelingt, warum soll es den anderen dann nicht gelingen?

Ich verstehe die Argumente meiner Mitmenschen, die sie dazu bringen, frustriert und wütend zu sein. Gleichzeitig merke ich an Abenden wie heute, dass sie gar keine Lösungen wollen. Vielleicht sind sie einfach noch nicht dazu bereit.

Dan Millman schreibt in Die goldenen Regeln des friedvollen Kriegers:

„Es ist fast unmöglich, eine Nuss zu knacken, die noch grün ist; aber wenn sie reif ist, springt die Schale schon beim kleinsten Schlag auf.

Grundsätzlich möchte sich jeder ändern, aber nicht jedem ist es so wichtig, dass er dafür auch bereit wäre die Anfangsphase durchzustehen, die immer mit Unannehmlichkeiten verbunden ist. (…) Manch einer hat solche Ängste und ist so gelähmt, dass er erst einmal ganz unten landen muss – zum Beispiel seine Freunde oder Familie verlieren oder lebensgefährlich erkranken -, ehe er Bilanz zieht und ihm klar wird, wie ernst die Lage ist.“

Also versuche ich, Verständnis zu haben. Doch es fällt mir schwer. Letztendich ist es so einfach, glücklich zu sein. Wenn wir die Verantwortung dafür selbst übernehmen und aufhören zu glauben, Glücksempfinden hänge von Geld, Gerechtigkeit oder Macht ab.

Pierre aus Krieg und Frieden erlebt das Glück als Kriegsgefangener an einem Morgen, als er in einen trockenen Brotkanten beißt, nachdem er es in der Religion, im Überfluss, im Spiel, in der Rebellion, im Krieg, in der Liebe gesucht hatte.

Ich erlebe Glück, seitdem ich lernte, innezuhalten und meine Gefühle wiederzuentdecken und ernst zu nehmen, seitdem ich mehr von dem mache, das mir irgendwie gut tut – Schreiben und Malen – und weniger von dem, was mir nicht gut tut – es anderen Recht machen und zu viel grübeln. Dieses Glück ist in der Reichweite eines jeden von uns, wenn er dazu bereit ist.

Ab wann, ist es die Mühe wert?

Diese Erkenntnis kann jedoch kein Mensch aus Büchern oder Artikeln lernen. Sie ist auch nicht in kurzer Zeit verfügbar. Um sie zu verinnerlichen und zu erfahren, müssen wir unsere Gehirnstrukturen und Denkgewohnheiten ändern. Das braucht viel Konzentration, Mühe und vor allem Zeit.

In einer Gesellschaft, in der es denen, die es am nötigsten hätten, vor allem um Argumente, schnelle Lösungen und Rechthaben geht, kommt dieser Weg nicht so gut an.

Als lernte ein Rechtshänder, mit der linken Hand zu schreiben. Es ist möglich, aber es dauert eine Weile und braucht Übung. Würde man einigen Menschen hunderttausend Euro bieten, wenn sie diese Mühe auf sich nehmen und es schaffen, dann würden die meisten wahrscheinlich sofort loslegen.

Wenn man ihnen jedoch versichert, dass sie danach erfüllter und lebendiger sind, scheint das nicht Anreiz genug. Obwohl sie sich von hunderttausend Euro doch auch nur Glück versprechen. Es erscheint mir absurd, dass so viele sich weigern, es überhaupt auszuprobieren. Das so viele Nüsse noch nicht reif sind.

Der Psychologe Franz Ruppert meint, es liegt an unseren unbewussten Traumata, die wir nicht aufarbeiten. Doch ich finde, es liegt auch daran, dass so viele sich nicht einmal fragen, was sie eigentlich wollen. Sobald man Vorschläge macht, was es sein könnte, werden sie wegargumentiert:

Das bringt nichts.

Das kann ich nicht.

Dafür habe ich keine Zeit.

Spätestens, wenn der Tod sich anmeldet, kommen wir um die Begegnung mit unseren verdrängten Gefühlen nicht herum.

Desto später, wir diese Begegnung haben, desto mehr tut es weh.

Wenn wir es wagen, bevor ein einschneidendes Ereignis wie Krankheit oder Verluste uns heimsuchen, wirbelt es unser Inneres auf. Es macht uns verletzbarer und verwirrt unsere Mitmenschen, die sich Sorgen um uns und ihre eigene Schale machen, die ebenfalls aufbrechen könnte, wenn sie unseren Gefühle ausgesetzt sind.

Da ist es einfacher, sich weiter aufzuregen und zu glauben, dass wir glücklicher wären, wenn Weltfrieden herrschen würde, wenn Gerechtigkeit allgegenwärtig wäre, wenn die Reichen endlich mehr von ihrem Reichtum mit den Armen teilen würden oder wir selbst reich wären.

Ich bin müde von diesem Hinterherrennen im Außen. Es macht mich müde, anderen dabei zuzusehen.

Nach meiner Erfahrung, würden die Menschen, die jetzt unglücklich sind, auch in dieser idealen Welt nicht glücklicher sein als jetzt.

Obwohl ich zweimal ausgewandert bin, auf einer Sonneninsel am Mittelmeer lebe und als Freiberuflerin nur wenige Stunden am Tag arbeite, war ich am Anfang nicht glücklicher als vor meinem Aufbruch in die weite Welt.

Gefühle sind Macht

Heute bin ich glücklicher, weil ich dank meiner Therapeutin endlich lernte, meine Gefühle wieder wahrzunehmen und wie Nietzsche sagen würde „ich zu werden“. Dabei ist die Fähigkeit Traurigkeit zuzulassen ein wichtiger Faktor. Sie fühlt sich besänftigend und lebendig an, gehört zum Glücklichsein dazu, spendet mir Kraft, statt sie mir zu rauben.

Wenn ich dies nur meinen Mitmenschen vermitteln könnte, die noch immer so viel Energie verschwenden, um sich aufzuregen und Recht zu haben, dann wären wir dem Weltfrieden wenigstens einen kleinen Schritt näher.

Wer in Kontakt mit seinen Gefühlen ist, lässt sich von niemandem mehr gegen andere aufhetzen oder für irgendwelche Ideologien instrumentalisieren.

Geld ist Macht. Wissen ist Macht. Der Zugang zu unseren Gefühlen ist noch stärker als die Macht des Geldes und des Wissens. Denn unsere Gefühle nehmen noch viel mehr wahr, als nur unser Verstand.

Sie leiten uns sicher durch die Welt. In der Erziehung werden sie uns abtrainiert, doch sie sind weiter in uns. Wir müssen sie nur wieder hervorgraben und auf sie achten. Dann verändern wir die Welt.

Solange jeder glaubt, nur die anderen müssten sich ändern, werden wir ewig den alten Mustern folgen und das gleiche System einstürzen und wieder aufbauen.

Es liegt an jedem einzelnen. Wir hängen alle voneinander ab.

Wenn ich beobachte und merke, wie anders die meisten Menschen ticken, frustriert mich das. Dann merke ich, dass auch ich noch einen weiten Weg vor mir habe, was inneren Frieden anbelangt.

Jetzt darf ich mich daran erinnern, den Frust der anderen loszulassen, mich stattdessen von ihrer Leichtigkeit, die sie gleichzeitig versprühen, anstecken zu lassen. Wie oft ist es ihre Andersartigkeit, die mich aus meinem immerzu nach Tiefsinnigkeit strebenden Geist herausholt.

Wie paradox doch meine Bestrebungen und Erkenntnisse sind. Ich will die Welt verändern, indem ich lerne, sie anzunehmen, wie sie ist. Ich will die Denkweise der Menschen verändern, indem ich lerne sie anzunehmen, wie sie sind. So, wie ich mein Leben von Grund auf veränderte, indem ich lernte, mich anzunehmen wie ich bin. Indem ich immer mehr ich wurde und werde.

Ich spaziere die Straße entlang nach Hause, hebe mein Gesicht in Richtung Himmel und spüre, wie die zarten Tropfen mich wachklopfen. Willkommen im Leben.