Vergebung

Das leere Blatt starrt mich an. Sobald es wegsieht, brabbeln alle Gedanken wieder los. Kaum mache ich es auf, sind sie weg. Ist vielleicht eine neue Art zu meditieren. Ein Word-Dokument öffnen und damit die Gedanken bedrohen, wie der Lehrer, der jemanden an die Tafel zitieren möchte.

Dann spiele ich mal Lehrer und zerre sie alle an die Tafel vor, bis sie endlich Ruhe geben. Ein paar Tage erkältet im Bett und ich fühle mich, als reproduzierten sich die Gedanken zu einem riesen Knäuel, das meine Kopfschmerzen verursacht, meinen Brustkorb beschwert und meinen Magen zusammenzieht.

Es ist so viel auf einmal. Wie immer. Selbstmitleid, weil ich keine Liebesgeschichte habe, die mir das Gefühl gibt, wichtig oder besonders für jemanden zu sein. Dann kommt gleich der Einwand, dass da mehrere Menschen sind, die mir das Gefühl geben und mir ihre Wertschätzung zeigen, auch wenn wir keine Liebesbeziehung haben, sondern Freundschaft und manchmal auch etwas mehr.

Mein Wunsch nach Frieden in der Gesellschaft und meine innere Arbeit dafür, um dann doch wieder an Menschen zu verzweifeln, die kalt im Ton und voller Vorurteile sind und null an sich zweifeln oder arbeiten. Meine Frustration, wenn ich beobachte, wie schnell andere urteilen, um dann selbst wieder festzustellen, dass ich urteile und es ein ewiger Teufelskreis ist.

Ich bin so müde von meinen eigenen Gedanken. Ich will einfach wirklich nichts tun, doch sobald ich mich hinlege, sind sie da und hören nicht auf. Ja, auch die Gedanken sein lassen. Blablabla. Ich mache mir nun Abendessen und dann sehe ich mir eine Sendung mit Sven Böttcher an. Was neununddreißigjährige Singlefrauen eben so machen an einem Samstagabend – wenn sie erkältet sind und schon gezeichnet, mit ihrer Freundin telefoniert und ein Webinar zur Heilung der Liebe mitgemacht und vom Bett aus gearbeitet haben.

Wann werde ich wirklich mal wieder nichts machen? Wann habe ich damit aufgehört, das Nichtstun zu zelebrieren? Wobei mir das auch oft so depressive Gedanken brachte, da ich keinen Sinn in meinem Leben sah. Nun habe ich immerhin meine Mission gefunden, die von innen heraus von mir gemacht werden möchte. Wobei ich dafür zwanzig Bücher hier liegen habe, die ich alle rezensieren oder vorstellen will, Videointerviews führen will, mein Journalismusfernstudium weiterbringen möchte, Artikel schreiben möchte, zeichnen möchte … Ich habe aus meiner Freude einen Stress gemacht. Die Erkältung könnte mir helfen, runterzukommen und es wieder aus Freude zu tun. Ohne Druck. Doch der Druck kommt ebenso aus meinem tiefen Inneren wie die ursprüngliche Begeisterung für all diese Tätigkeiten.

Wenn ich mal wirklich nichts tun könnte, wie früher, habe ich nun immer das erdrückende Gefühl, die Zeit für etwas Sinnvolles nutzen zu müssen. Nur einen Tag ging es mir so schlecht, dass ich meinen Kollegen bat, für mich zu arbeiten. Da lag ich wirklich nur herum und meine Gedanken mischten sich mit den Kopf- und Gliederschmerzen, während ich ab und zu in einen Dämmerschlaf fiel.

Ich ertrage mich gerade schwer. Acht Jahre, nachdem ich die ersten Übungen gemacht habe, um mich selbst lieben zu lernen, fühle ich mich weit davon entfernt. Im Webinar kamen mir heute die Tränen ob meines Unfriedens mit mir und der Welt. Es ging um kollektives Trauma und Vergebung und ich verzweifelte daran, den kalten Arschlöchern, die immer alles besser wissen und urteilen, ohne mal nachzufragen, ob sie was falsch verstanden haben, und ihre Kälte auch noch für Intelligenz halten, nicht vergeben zu können, obwohl ich weiß, dass es auch nur ihre Panzer sind, die sich so verhalten. Da sagte ein Mann zu mir: Vielleicht kannst du das, wenn du erst einmal dir selbst vergibst.

Und ich dachte so: Hä? Ich? Was soll ich mir denn vergeben? Der Fokus war auf jeden Fall schonmal neu und weg von den anderen und nach und nach fallen mir Sachen ein:

Dass ich nicht alles schaffe,

dass ich mir zu viel vornehme,

dass ich anderen nicht vergeben kann,

dass ich genauso selbstgerecht bin, wie die Leute, die ich darauf hinweisen möchte, dass sie selbstgerecht sind,

dass ich die Katzenklos nicht öfter sauber mache,

dass ich so viel Müll verursache,

dass ich meinen eigenen Idealen nicht immer treu sein kann,

dass ich verlassen wurde,

dass ich drei Schwangerschaften verloren habe,

dass ich oft meine Grenzen noch nicht setze, …

Hm.

Alice Neel Bleistift auf A3-Papier beim Telefonieren mit Luise