Unerwartetes Erwachen

Ein Auszug aus meinen Morgenseiten.

Die Sonne strahlt noch immer vom blauen Himmel. Das Wetter steht im krassen Kontrast zu dem Buch „Warum schweigen die Lämmer“ von Rainer Mausfeld, das ich lese, und dem Eindruck, den ich von unserem Leben in westlichen Gefilden gewinne. Es ist eben nie nur das eine oder das andere. Die Frage ist, wie viele Menschen bekommen so wundervolle Sachen wie die Sonnenstrahlen, den Wind, spielende Katzen, Blätter, die im Wind wehen, noch mit?

Mausfeld schreibt von den apathischen Menschen und er hat Recht. Also er schreibt von politisch apathischen Menschen, doch sie sind ja nicht nur in Bezug auf die Politik apathisch. Laut ihm lenken die Eliten gezielt die Meinungen und das Empören der Massen in bestimmte Richtungen, doch manchmal, wenn ich es richtig verstanden habe, geht das auch schief.

Ich will mir eigentlich keine Gedanken mehr darüber machen. Denn diese sind sehr entmutigend. Ich würde mich am liebsten einfach in Mausfelds Buch informieren und dann meine innere Weisheit tun oder nicht tun lassen, was meine „Bestimmung“ ist. Und die ist bestimmt nicht, eine Lösung gegen eine seit Ewigkeiten währende und mit der Zeit verfeinerte Strategie zur Machterhaltung der Eliten zu finden.

Mein rechtes Auge ist in letzter Zeit immer wieder blutunterlaufen. Gerade fängt es auch an zu tränen, obwohl es im Schatten meiner Baseballkappe ist. Ghost streift um den Tisch.

Ich hatte irgendeinen Traum, an den ich mich nicht genau erinnere. Ich saß auf dem Dach eines Hauses am Meer, es war die Ostsee und der Wald reichte bis zum Sandstrand, den ich im nächtlichen Mondschein sehen konnte. Ich hatte große Sehnsucht dorthin zugehen, doch es war dunkel und als ich von dem Stuhl aufstehen wollte, merkte ich, dass das Dach rund um den Stuhl schon zu Ende war. Mein Vater reichte mir die Hand und zog mich hoch auf den Dachsims.

Danach war ich auf irgendeiner Metalltreppe in großer Höhe und fiel vor Angst mehrmals fast in Ohnmacht. Jaime lief hinter mir. Ich klammerte mich am Geländer fest. An mehr erinnere ich mich nicht.

Jetzt weiß ich nicht, was ich noch weiter schreiben soll. Die Busse machen unten auf der Straße Lärm. Ich genieße mein komfortables Leben jeden Tag sehr bewusst, da ich irgendwie seine Endlichkeit spüre. Das hatte ich mir vor ein paar Jahren gewünscht, dass ich mir meiner Endlichkeit schon jetzt sehr bewusst werde und nicht erst, wenn ich mal Krebs habe oder alt bin.

Ich fühle mich dankbar für meine Wohnung mit all ihren Fehlern – dem Schimmel an der Wand, der auf Mallorca immer wieder kommt und den ich bald mit Jaime mit Spezialfarbe übermalen will, die undichten Fenster, die nicht isolierten Wände. Ich liebe sie. Die tolle Dachterrasse, das große Wohnzimmer mit der amerikanischen Küchentheke. Alles ist alt und man könnte es schöner machen, aber ich liebe es auch jetzt. Ich bin auch jetzt schon glücklich damit. Ich bin dankbar für meinen morgendlichen Kaffee, dass die Gasflasche noch nicht alle ist. Wir müssen unbedingt neue Gasflaschen holen, um damit kochen und heizen zu können …

Meine Pflanzen auf der Terrasse, von denen Jaime einige diesen Sommer von der Arbeit in der Baumschule mitbrachte und anderen, die wir in Consell damals auf dem Dorffest bei der alten Frau holten. Die kleine Washingtonia, die Jaimes Mama extra für mich aus ihrem Garten eintopfte. All diese wundervollen Pflanzenwesen, die Katzen, das Schreiben auf diesem PC, ich bin so dankbar dafür.

Ich wünsche allen Menschen, dass sie ihr Leben nicht in dieser Scheinwelt des kapitalistischen Hamsterrads verpassen. Ich frage mich, ob ich auch im grauen Winterdeutschland jetzt diese Dankbarkeit spüren könnte. Da kommt mir die Erinnerung an den Winter hoch, als Papa sich den Fuß gebrochen hatte und einen Monat zu Hause war, zumindest bilde ich mir ein, dass es solange war.

Ich hatte Freitag früh die erste Stunde Bio-Unterricht und danach zwei Freistunden, in denen ich nach Hause ging und mit Papa frühstückte. Auf dem Weg holte ich Brötchen. Das wurde mit der Zeit zu einem richtigen Ritual für uns. Ob das wirklich so war? Ich muss Papa mal fragen. Diese einfachen Momente genoss ich damals schon sehr bewusst. Am Ende wartet das Glück wohl immer genau in den einfachsten und unspektakulärsten Augenblicken, an die wir keine Erwartungen knüpfen.

Wobei ich genau den Winter auch als besonders kalten und dafür sonnigen erinnere. Ich fuhr nach der Schule mit dem Bus zum Einkaufscenter, wo ich im Schuhladen arbeitete, und sehe noch vor mir, wie ich den Blick in den eisig blauen, klaren Himmel genoss, während der Bus in der Pfännerhöhe an der Ampel stand. Dann kam ich im Schuhladen an und Martin begrüßte mich mit seinem frechen Grinsen und dem Satz: „Warum lachst’n nich?“, was mich jedes Mal zum Lachen brachte. Wahrscheinlich mische ich hier mehrere Monate oder Jahre der Erinnerung, doch das macht nichts. So hat mein Kopf es gespeichert und ich freue mich darüber.

Der heutige Morgen ist wider Erwarten von Dankbarkeit geprägt. Lustig. Als ich vor einer halben Stunden aufwachte,fühlte ich mich träge und von den Gedanken an apathische Mitmenschen bedrängt und nun sitze ich hier und habe den Eindruck der Wind hat meinen Kopf frei geblasen für das Wesentliche. Das Zelebrieren des Alltags, denn hier in den kleinen Dingen, liegt unser Leben begraben. Wir brauchen es nur bewusst wahrzunehmen.

Heute schließe ich mich Goethe, wobei ich Dankbarkeit und Liebe oft als dasselbe Gefühl wahrnehme: „Welch ein Glück geliebt zu werden! Und Lieben Götter, welch ein Glück!“