Die Kraft der Naivität

Früher bin ich innerlich an die Decke gegangen, wenn mir einer an den Kopf warf, ich sei naiv. Seitdem futterte ich mir Hintergrundwissen ohne Ende an, mit der Folge, dass mein täglicher innerer Kampf um den Glauben an eine lebenswerte Zukunft immer schwieriger wurde.

Nein, ich möchte nicht wegschauen. Ich möchte auch nicht mein Herz verschließen, wenn das Leid anderer unerträglich anzusehen ist. Immer wieder holen mich die Gedanken ein, dass es aussichtslos ist für die Menschheit.

Meinen Alltag konnte ich so gestalten, dass ich zumindest den Eindruck habe, dass es doch nicht so schlimm ist. Zumindest nicht für alle und überall. Auf einer Insel im Mittelmeer mit lebensfrohen Menschen, die alles irgendwie lockerer nehmen als ich, lässt es sich aushalten.

Beim Spazieren in traumhaften Bergen hüpft das Herz im Hopserlauf durch die Botanik und schreit ab und zu entzückt auf, wenn eine Babyziege meinen Weg kreuzt.

Dann kehre ich zurück an den PC und möchte etwas tun, für all diejenigen, die Leid erleben, das ich mir kaum auszumalen vermag. Doch ich kann nichts tun, was ihr Leid lindert. Weder für Kriegsopfer, noch für Erdbebenopfer, noch für Opfer von Armut, sozial Ausgegrenzte oder wohlhabende leere Konsumzombies. Zumindest nicht für die, die gar nichts ändern wollen.

In Frankreich beeindruckt mich mein Lieblingsjournalist und -abgeordneter François Ruffin immer wieder mit seinem unermüdlichen Einsatz für die armen und prekär beschäftigten Menschen in seinem Land. Er hält der Mittelklasse vor, dass sie die Arbeiterschicht im Stich gelassen habe. Vor der Nationalversammlung hält er Reden über die Arbeitsbedingungen der Putzkräfte in eben jener Nationalversammlung. Er dreht Dokumentarfilme, die auf die Probleme aufmerksam machen und schafft es bei allem, den Humor und die Lebensfreude nicht zu verlieren. Er ist ein Vorbild.

Oft schäme ich mich dann für meinen Wohlstand und meine Lebensumstände. Doch wem ist damit geholfen? Schuld und Scham sind eben auch Gefühle, die politisch missbraucht werden. Wenn ich mich für den Alltag, den ich mir selbst durch mein eigenes Lernen aber auch mit der Hilfe meiner Eltern und meiner durch Glück angeborenen Fähigkeiten bewusst gestaltete, schuldig fühle, komme ich nicht ins Handeln. Dann drehe ich mich im Kreis und diene somit wieder „dem System“ oder dem Status quo.

Hm. Und nun?

Nun bin ich mittendrin in meinem inneren Kampf zwischen Resignation und Hoffnung. Kleine Schritte. Hilfe durch Mitgefühl. Die Erkenntnis, dass ich so vieles nicht weiß, dass ich keine Ahnung habe von den Ausmaßen des Leids eines Großteils meiner Mitmenschen, aber auch von möglichen Wundern oder der Komplexität des Systems. Alles ist so verdammt verstrickt.

Also ziehe ich das Pferd von hinten auf. Eines ist sicher: resignierte Menschen haben bereits verloren. Wenn ich resigniere, dann war’s das – zumindest für mich. Dann vegetiere ich frustriert und verbittert vor mich hin. So kann das Leben nicht gemeint sein. Und dafür würde sich all die Aufklärungsarbeit und Aufdeckung der Missstände überhaupt nicht lohnen. Deshalb verstehe ich auch die Debatte gar nicht, warum wir überhaupt fragen, ob es Anlass für Hoffnung gibt. Was wäre denn eine Alternative dazu?

Ist es nicht im Sinne des Systems, dass Naivität bei uns so einen schlechten Ruf hat und mit Dummheit gleichgesetzt wird? Ohne meine Naivität wäre ich nicht einfach alleine ins Ausland gezogen. Hätte ich vorher an alle möglichen Faktoren gedacht oder gar gewusst, wie schwer es ist, in einem anderen Land Fuß zu fassen, wie lange ich brauchen würde, um die Sprache so zu sprechen, dass ich mich damit wirklich so ausdrücken kann, wie ich bin – mit meinem blöden Humor, meinen schnellen, verstrickten Gedanken – , ich wäre wohl nie losgezogen.

Die ersten zwei Jahre in Frankreich nach dem ersten Austauschjahr waren von Leistungsdruck und Einsamkeit geprägt. Und doch fühlte ich immer, dass es gut so war für mich, dass ich daran wachsen würde. Es war Lebendigkeit, die ich meiner Naivität zu verdanken hatte. Zu Hermann Hesse sagt heute auch keiner mehr (zumindest nicht, dass ich wüsste, ha!), dass er naiv war, und doch schrieb er:

„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,

Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,

An keinem wie an einer Heimat hängen,

Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,

Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.“

Und dann der Monat Mallorca und mein Gefühl, dass ich hier bleiben wollte. Ich musste Menschen verletzen, mich trennen, meine Freunde zurücklassen, wozu das alles? Aus einem Gefühl heraus, das mir keine andere Wahl ließ. Mein Körper wollte nicht wieder zurück ins Pariser Großstadtleben. Es wäre einfach nicht gegangen. Doch wusste ich nicht, was ich von dem Umzug auf eine Insel, wo ich keinen kenne und die Leute kaum verstehe, erwarten sollte. Ich ließ mich wieder ein auf das Unbekannte.

Naivität ist die Eigenschaft, die uns über uns hinauswachsen lässt. Anstatt sie niederzudiskutieren, könnten wir sie bewundern. Das Problem ist, dass wir naiven Menschen unterstellen, sie seien nur so voller Hoffnung, weil sie keine Ahnung von der Realität haben. Wir können uns kaum vorstellen, dass ein Mensch, der sich mit dem ganzen Elend der Welt beschäftigt, noch irgendwie Anlass hätte, etwas von Hoffnung zu faseln. So sieht das unser westlicher Verstand. Unsere Konsumkultur.

Aida Shibli aus Palästina erzählte mir, dass es in ihrer Kultur immer heißt, Palästinenser hätten nicht das Privileg die Hoffnung zu verlieren. Und somit können wir den Spieß nun vielleicht auch bei uns einmal langsam umdrehen und Hoffnung und Naivität als Kräfte erkennen, die uns beschützen und uns helfen zu leben, um es mit Hesses Worten zu sagen.

Außerdem schenken sie uns Kraft. Aida hat im Gegensatz zu mir sehr viel Elend hautnah erlebt. Sie hat elf Konflikte in ihrem Land überlebt, als Krankenschwester in Jerusalem verwundete Israelis und Palästinenser gepflegt, als alleinerziehende Mutter in einer muslimischen Kultur Friedensarbeit geleistet, in Flüchtlingslagern humanitäre Hilfe geleistet und sie spricht immer und immer wieder von der Wichtigkeit der Freude:

„Ich glaube, dass es die Absicht der Unterdrückungssysteme ist, dass wir ihre Sklaven werden, dass wir an sie glauben, die Macht auf sie projizieren und in einen Zustand der Machtlosigkeit geraten. Und wenn wir in diesen Zustand der Hoffnungslosigkeit geraten, wird alles riesig und unlösbar. Wir werden depressiv. Und das Gegenmittel für diese Depression ist Freude.

Wie kann man nun in Zeiten, in denen der Schmerz so groß ist, fröhlich sein? Ich unterscheide zwischen dem oberflächlichen Glück und der tiefen Freude, die aus der Quelle in uns selbst kommt. Das System ist daran interessiert, dass wir in das oberflächliche Glück eintauchen, das heißt, ich erreiche die momentane Zufriedenheit: Ich kaufe Dinge, ich gehe auf eine Party, ich betrinke mich, ich fahre in den Urlaub und denke, ich bin glücklich. Ich arbeite, und ich habe mir einen Urlaub verdient. Aber das ist nur oberflächlich. In dem Moment, in dem die Party zu Ende ist, stehen wir wieder vor denselben Bedingungen.

(…) Es geht um eine Haltung: Wenn man immer nach dem sucht, was fehlt, nach dem, was noch nicht da ist, dann ist das der lineare Verstand, der männliche lineare Verstand, und auch der weiße Weg der Dominanz, der lautet: ‚Das reicht noch nicht, deshalb müssen wir beten …“, „Das reicht noch nicht, du musst mehr leisten …‘, Anstrengung, Anstrengung, Anstrengung … Und der indigene Weg ist, dankbar zu sein für das, was ich jetzt habe.“

Ich bin heute dankbar für meine Naivität und für all die Menschen, denen ich in den letzten Jahren begegnet bin, die nicht wegschauen vom Elend und zugleich den Mut zur Freude und Hoffnung nicht verloren haben. Denn, auch das ist wichtig zu erkennen: Naivität macht uns extrem verletzlich. Sie zieht zwangsweise Enttäuschungen und Ernüchterung nach sich. Immer wieder aufs Neue.

Und sie hilft, dann auch wieder aufzustehen. Weiterzugehen. Denn vieles gelingt auch, denn die Welt wäre wohl heute noch wesentlich grausamer, wenn nicht all die naiven Idealisten immer wieder für ihre Ideale eingestanden wären. Die Megamaschine der selbsternannten Weltenherrscher mit ihrer Profitgier und Entfremdung ist so machtvoll – und dennoch müssen sie sehr viel Energie und Anstrengung dafür aufwenden, damit die Menschen ihre natürliche Ader für ein friedvolles Leben im Einklang mit der Natur aufgeben.

Wir sind nicht machtlos, wenn wir den Mut haben, immer wieder vom Gefühl der Ernüchterung geläutert zu werden. Ich bin lieber naiv und lebendig, aktiv und engagiert, als resigniert und in unserer Gesellschaft dafür anerkannt. Sie werden mich weiter belächeln, doch es triggert mich nicht mehr wie früher, und ich erkenne endlich, dass in meiner Naivität meine Kraft liegt.