Madrid und das Meer

Oft schreibe ich wohl nicht, weil ich so viel zu sagen habe, dass es mir unmöglich erscheint, es in Worte zu fassen. Die Welt ist komplex. Oder besser die Welten. Ich verbrachte drei Tage mit Marc und Anne in Madrid. Wenn wir zusammen sind, debattieren und besprechen wir alles, was uns beschäftigt: Persönliche Beziehungsfragen, Selbstzweifel, die Weltlage, Krieg in der Ukraine, Demokratie, Meinungsfreiheit in Spanien und Deutschland, Klassenunterschiede … Oft weiß ich gar nicht, ob wir einer Meinung sind oder nicht. Wir debattieren wild hin und her.

Nach drei Tagen mit den beiden hatte ich nicht nur Magenprobleme, weil wir den ganzen Tag in irgendwelchen Cafés, Bars und Restaurants saßen, Vermut, Bier oder Wein tranken und aßen, während wir redeten, sondern auch intellektuelle Verstopfung.

All die Eindrücke der wunderschönen, majestätischen Stadt Madrid, der vielen Menschen, die ich durch mein Inselleben nicht mehr gewohnt bin, meine Gedanken, die Gespräche, meine Gedanken zu den Gedanken von Marc und Anne … mein Horizont erweitert sich nur langsam, während Gedanken sich anstauen und mich auffüllen, bis ich nachts gelähmt und mit einem übervollen Verdauungs- und Nervensystem ins Bett falle und dort liege – mit offenen Augen an die Decke starrend, als würden meine Gedanken über mich hinwegrennen, um dann doch nicht weiterzukommen und in meinen Magen hinabzupurzeln.

Was mich beschäftigt: Die Klimaaktivisten und ein Artikel zu ihren Aktionen in Museen von meinem Freund und Kollegen Nico. Die persönlichen Geschichten von zwei Personen, die ich an diesem Wochenende kennenlernte.

Einer ist drogenabhängig und verdient sehr viel Geld, aber hat seine Freundin und seine Wohnung verloren, geht auf Party, statt sich ein neues Zuhause aufzubauen, das er sich trotz des vielen Geldes aufgrund der Drogensucht nicht mehr leisten kann. Urteile tauchen schneller in mir auf als ich seine Geschichte hören kann. Während ich sie mir anhöre, werde ich weicher. Ich atme tief durch, ich halte mir die Hand vor den Mund.

Er war einmal ein Kind, dessen Vater beim Autounfall starb, seine Mutter wurde daraufhin verrückt und kam in die Psychiatrie. Seine Großeltern kümmerten sich um ihn, aber starben auch bald und so landete er mit neun oder zehn im Kinderheim, ein Alter, in dem niemand ihn mehr adoptieren wollte. Also kam er immer für kurze Zeit zu Gastfamilien. Was macht das mit einem Menschen? Soll er nun seinem Schmerz, seiner Verletzlichkeit ins Gesicht sehen? Wie selbstgerecht ist es von mir, von allen zu verlangen, ihre Traumata aufzuarbeiten? Ich höre die Geschichte und höre auf nach Lösungen zu suchen. Ich verstehe es, wenn dieser Mensch, sich lieber wegdröhnt. Keine Ahnung, ob sein Gefühl von Alleinsein und Sich-nicht-verstanden-fühlen jemals weggeht.

Die zweite neue Bekanntschaft ist eine junge Frau, die als Kind missbraucht wurde, und sich als Jugendliche prostituierte. Sie studierte und macht heute eine Arbeit, die sie liebt als Unternehmensverwalterin für ein Start-up, wo sie auch kreativ sein kann. Ihre Mutter war depressiv und tat nichts weiter als sich gehen zu lassen, sie hat als Studentin die Miete ihrer Mutter bezahlt und konnte sich deshalb keine eigene Wohnung leisten, jobbte nebenbei um all die Verantwortung zu tragen. Vor einem Jahr wagte sie endlich den Schritt, den Kontakt abzubrechen und sich um sich und ihr Leben zu kümmern. Es ist nicht immer leicht, sie hat noch Tage, an denen sie in ein Loch fällt, doch sie ist erwachsen und erfüllt und hat sich selbst ermächtigt.

Über diese Schicksale sprach ich mit Marc und Anne. Und wir stellten fest, dass diese Menschen und andere mit ähnlich krassen Geschichten, die wir kennen, sich selbst nie als Opfer darstellen oder sehen. Sie versuchen einfach zu leben. Ihre Geschichte erfahren wir eher nebenbei oder durch Zufall, sie tragen sie nicht vor sich her und sie instrumentalisieren sie nicht, um sich wichtig zu machen. Im Gegenteil, sie verstecken sie eher.

Wenn ich solche Geschichten höre, fühle ich Scham darüber, mich beklagt zu haben, so lange passiv in meiner Isolation festgesteckt zu haben, Selbstmordgedanken gehabt zu haben. Doch genau das ist eine Falle. Jeder Mensch hat seine Geschichte. Wenn ich nun schon lerne, endlich bewusst anderen zuzuhören und meine Urteile dabei nach und nach fallen zu lassen, kann ich das auch mit mir selbst tun. Denn sich selbst zu verurteilen ist „Opferenergie“. Das klingt schon wieder so hart, aber es ist meine Beobachtung. Ja, auch emotionale Leere ist eine Last.

Was auch immer uns belastet, es hat seine Gründe.

Dank Madrid und all den Eindrücken erkannte ich wieder einmal, wie komplex die Welt ist, außen wie innen. Wir teilen dieselben Straßen, sehen denselben Mond, dieselbe Sonne, dieselben Sterne. Das ist die Welt. Und in dieser Welt gibt es all die anderen Welten. Die der armen Menschen, die auf der Straße betteln, die Welt von Menschen in afrikanischen Metropolen wie Lagos in Nigeria, die Welt von mittelständischen weißen Frauen wie mir in einem mallorquinischen Dorf.

Ich hatte das Glück, in verschiedene Welten eintauchen zu können: eine Eröffnungsfeier in Ibiza mit Millionären, Bier aus Dosen mit Bauarbeitern in einer Bucht auf Mallorca, einem Heroinsüchtigen den Gürtel um den Arm festziehen, während er sich seine Dosis spritzte in meiner Heimatstadt Halle, mit Sekt in der Hand in einer Pariser Kunstgalerie umgeben von Hipstern und reichen Schnöseln, wie ich auch diese Menschen verurteilte.

Ich rege mich immer wieder über Leute auf, die andere verurteilen und sich spalten lassen, und stelle immer wieder betroffen fest, wie sehr ich es selbst tue. Mit anderen und mit mir selbst. Ist es menschlich? Können wir lernen, das zu überwinden?

Meine Erfahrung ist, dass ich umso schärfer urteile, umso stärker ich nicht mehr urteilen will. Das ewige Dilemma. Jetzt bin ich müde. Von all den Eindrücken. Von all meinen Ambitionen, Frieden in mir zu finden.

Das war auch, was mich am Klimaaktivistenthema triggerte. Jetzt verurteilen Autoren der Zeitung, für die ich schreibe, junge Menschen, die sich für die Umwelt einsetzen. Doch genau das ist gar nicht so klar: Sie verurteilen, dass die Aktivisten sich für die Umwelt einsetzen wollen, sich aber – ohne es zu merken – für andere Zwecke einspannen lassen, die durch die Ablenkung auf das Klima und die Kunst versteckt werden. Und so lassen auch meine Kollegen sich plötzlich vom Umweltthema auf das Aktivisten-Kunst-Thema ablenken.

Doch wie ist es nun genau? Hat einer von uns mit einem der Aktivisten gesprochen? Spielen wir nicht alle die ganze Zeit irgendwie stille Post und wiederholen, was wir irgendwo gelesen und aufgeschnappt haben? Wie schnell tappen wir selbst in die Fallen, die wir bei anderen so leicht erkennen?

Und hier kommt alles zusammen: Wie schnell lassen wir uns wieder durch andere von dem einzigen Ort und Menschen ablenken, wo wir wirklich etwas ändern können? Bei uns selbst, im eigenen Umfeld.

Die Journalistin Leila Dregger sprach mir heute im Newsletter des Zeitpunkt aus der Seele:

„Was denken Sie über die ‚letzte Generation‘? In Deutschland wird heftigst über sie diskutiert. Sie kleben sich an Verkehrsknotenpunkte und verursachen kilometerlange Staus, bis Polizisten sie mühsam ablösen.

Sie schütten Kartoffelbrei auf (glasgeschützte) Weltkunst, empören Kulturfreunde, lassen sich verhaften, werden frei gelassen und beginnen aufs Neue. Sie nerven, aber im Grunde versuchen sie nichts anderes als alle, die gewaltfrei Widerstand leisten, von Gandhi bis Greenpeace:

Sie erzeugen durch medienwirksame und fotogene Auftritte maximale Aufmerksamkeit für ihr Anliegen. Wer sie beschimpft, sollte sich überlegen, was ihn so wütend macht: vielleicht doch das Infrage-Stellen unseres Lebensstils, unserer Gewohnheiten?

Ich verstehe auch nicht, warum alle so weitermachen wie immer. Die Normalität ist mir unheimlich. Als ginge es nicht gerade um alles.

  • Als wäre nicht ein Drittel aller Tiere vom Aussterben bedroht.
  • Als hätten nicht zwei Milliarden Menschen keinen regelmässigen Zugang zu sauberem Wasser und fast eine Milliarde zu wenig zu essen.
  • Als würden nicht gerade so viele demokratische Freiheitsrechte beschnitten.
  • Als zündelten nicht gerade alle Weltmächte an Kriegshebeln. Als könnten wir uns noch auf das verlassen, was Politiker oder Medien sagen.
  • Als läge die Inflationsrate nicht jetzt schon bei über 10 %.
  • Als wäre nicht gerade jetzt, nach dem Abflauen der Corona-Geschichte die Sterblichkeitsrate zumindest in Deutschland am höchsten.

(…)

Meine Kritik an den Klimaklebern sind nicht ihre Mittel. Sondern ihre Einseitigkeit: Wer nur für die Reduktion von CO2-Ausstoss eintritt, sollte sich fragen, ob das eigene Engagement abgelenkt wird vom Wesentlichen. Denn die Krise ist viel komplexer, verwobener, ganzheitlicher als nur das Klima.

Ich persönlich halte es mit Gandhi: Be the change you want to see in the world. Wer einen Missstand anprangert, wird überzeugender, je mehr er sich auf Ziele besinnt.“

Was ist das Ziel? Gibt es ein gemeinsames Ziel, wenn wir Menschen so unterschiedliche Welten in unserer gemeinsamen Welt bewohnen? Ich fühle immer mehr, wie mein Ziel wirklich zu meinem Ziel wird, das lustigerweise der Weg ist, den wir Leben nennen. Ich möchte verstehen, ich möchte Frieden fühlen, ich möchte, dass alle Frieden fühlen und ein würdevolles, erfülltes Leben leben, um mich endlich nicht mehr schuldig zu fühlen für meine Privilegien …

… und hier komme ich der Wahrheit, meiner persönlichen Wahrheit wohl einen Schritt näher. Es geht am Ende immer vor allem um uns. Kein Mensch kann die Welt verstehen. Manchmal können manche Menschen sie für eine Zeit spüren. Wenn sie die Magie des Lebens sehen und das Elend des Lebens auch. Und diese einfach wahrnehmen. Dazu ist die 3Sat-Doku „Aware – Reise in das Bewusstsein“ sehr aufschlussreich.

Die sah ich mir endlich an, weil ein Autorenkollege, den ich um Rat bat, mir sagte, er habe eben keinen Fernseher und kein Netflix und nichts und habe deshalb vor allem abends viel Zeit zum Schreiben, was mich dazu bewegte Netflix zu kündigen.

Es ist erst einen Tag her. Danach saß ich abends eine Stunde am Meer. Meine Gedanken kamen nach all der Reizüberflutung in Madrid endlich runter und ich begann, zu schreiben, alles rausfließen zu lassen. Aufzuatmen.

Es ist, was es ist. Macht, was ihr wollt. Ich beobachte mein Gemüt und lerne, nicht für euch, nicht für den Weltfrieden, nicht für die Armen. Sondern, weil sich das Leben für mich nur so lebenswert anfühlt.

Und so saß ich heute Abend nicht vorm Bildschirm, sondern am Kamin mit Joana und Antje und ihren Hunden Rosy und Happy. Nachmittags bin ich mit dem Rad in den Hafen nach Puerto d‘Andratx in den Biosupermarkt gefahren und staunte und lachte mit den Pflanzen, dem Wind, der Sonne und den Tieren – Katzen, Schafe, Pferde, Enten, Spatzen. Das Leben ist so vielschichtig und die Magie ist bei allem Elend auch immer irgendwo. Ich sehe sie nicht immer, aber wenn ich sie sehe, weiß ich, was möglich ist.

„Es gibt eine Macht in mir, die allgegenwärtig, allwissend und allvermögend ist. Sie weiß, was meinem Wohle dient und wie es bewirkt wird. Göttlichen Ursprungs, wirkt sie in meinem Wesen, in meinem Körper und darüber hinaus in meiner Umgebung ordnend und harmonisierend, führend, helfend und heilend in dem Maße, wie ich mich für ihre Weisung offen und empfänglich halte“ (K.O.Schmidt).