Die Künstlerin

Im August besuchte mich die in Hamburg lebende russische Fotografin Sasha Ilushina für ein gemeinsames Fotoshooting. Für uns beide entstand daraus viel mehr als erwartet: Eine Freundschaft, gegenseitige Inspiration und dieses Interview, das sie im Anschluss auf Englisch mit mir führte und zusammen mit vielen persönlichen Bildern aus meinem Alltag, in dem sie mich für ein paar Tage begleitete, auf ihrer Website veröffentlichte. Dies ist die deutsche Übersetzung mit nur einigen ihrer Fotos.

 

von Sasha Ilushina

Im August hatte ich die Ehre, die wundervolle Elisa Gratias, eine deutsche Künstlerin und Autorin, die seit 2014 auf Mallorca lebt, zu fotografieren und zu interviewen. Elisa wurde 1983 in Sachsen-Anhalt in Deutschland geboren und studierte Übersetzen in Leipzig, Toulouse und Genf, bevor sie 2009 nach Paris zog. Vor sechs Jahren kam Elisa für einen Monat nach Mallorca und entschied sich, dort zu bleiben. Seitdem arbeitet sie als selbstständige Künstlerin, Autorin und Übersetzerin auf der Insel. Sie übersetzt, arbeitet für die unabhängige Online-Zeitung Rubikon, schreibt Artikel für Ihren Blog über Selbstliebe und malt Bilder im Pop-Art-Stil und Neo-Expressionismus.

Dieses Treffen war für mich die Gelegenheit, mich auf einem neuen Level wieder mit mir selbst zu verbinden, da ich eine enge Verbindung zur Kunstwelt habe. Ich studiere Kunstgeschichte und stamme aus einer Künstlerfamilie in Russland. Künstler und ihre Lebensweisen faszinieren mich seit jeher.

Das Ergebnis unserer fünf gemeinsamen Tage mit Elisa und ihren zwei Katzen Frida und Ghost in ihrer Atelier-Wohnung auf Mallorca ist dieses Fotointerview, das für uns beide sehr persönlich wurde und das ich hier sehr gern teile. Selbstportraits, Gemälde mit Frida Kahlo, Jared Leto und Buddha, Landschaften mit tropischen Pflanzen und zahlreiche Zeichnungen von Elisas Katzen Ghost und Frida schmücken die Wände. Pink mit Grün, Rot mit Gelb, Gold mit Schwarz. Manche Bilder sind direkte Anspielungen auf David Hockney, andere sind eine moderne Interpretation des deutschen Expressionismus und mexikanischen Surrealismus.

Elisas Wohnung ist so lebendig und erzählt so viel über ihre Persönlichkeit. Jedes Objekt und jedes Kleid, das sie trägt, bringen Farbe und Individualität zum Ausdruck. Jeder Gegenstand hier erzählt eine Geschichte über seine Besitzerin. Und dieses Interview ergänzt diese Geschichte.

Sasha Ilushina: Elisa, wie hast du mit dem Malen begonnen?

Elisa Gratias: Es war 2015. Eher zufällig. Mein damaliger Freund erzählte mir, dass er gemalt hatte, als er noch jünger war. Also kaufte ich eine Leinwand, Ölfarbe und Pinsel für ihn, um ihn zu motivieren, wieder zu malen, was in die Hose ging. Eines Tages langweilte ich mich, fand diese Sachen und begann einfach zu malen, ohne zu wissen, was ich eigentlich malen wollte. Ich hatte nur eine Vorstellung von den Farben, mit denen ich experimentieren wollte.

Das Ergebnis war mein erstes Bild „True Colours“. Als mein Freund von der Arbeit nach Hause kam, fand er es unglaublich und schickte seiner Tante, eine mallorquinische Malerin, ein Foto davon. Zur gleichen Zeit machte ich eine Psychotherapie und meine Therapeutin sagte in einer Sitzung: „Ich denke, Sie sind Künstlerin.“ Ich grinste und sie fragte, was dieses Grinsen zu bedeuten hatte. Ich antwortete: „Das wäre zu schön, um wahr zu sein.“

Also ging ich zu einem Malkurs bei der Tante meines damaligen Freundes und begann einfach zu malen. Es half mir sehr, meine ständigen Grübeleien zu überwinden – zumindest für die Zeit, in der ich malte und mich auf den Prozess konzentrierte. So ging es los.

Seitdem ich meine Leidenschaft für das Malen entdeckt habe, fühle ich mich sicherer. Es erfüllt mich und hängt nur von mir selbst ab.

Also ist Kunst deine Therapie? Was ist das Inspirierendste und Heilsamste beim Erschaffen von Kunst für dich?

Dass es nie endet. Desto mehr du malst und über Kunst, die dir gefällt, sprichst, desto inspirierter bist du. Das war eine wahre Offenbarung für mich. Ich hatte immer gedacht, dass Menschen anfangen zu malen oder Kunst zu erschaffen, wenn sie eine Inspiration haben. Das könnte auf viele von uns zutreffen. Wir warten auf die Inspiration, um anzufangen, Kunst zu machen, und da sie nie kommt, denken wir, dass wir kein Talent haben oder keine Künstler sein können. In dem Malkurs lernte ich, dass alle Künstler die Bilder von anderen Künstlern abmalen. Also tat ich dasselbe. So lernen wir letztendlich alles. Durch Nachahmen. Sprache, Gehen, Verhaltensweisen … Nach einer Weile begann ich, die Farben der Bilder zu ändern und dann Fotos abzumalen – denn Gesichter faszinieren mich sehr.

Seitdem ich meine Leidenschaft für das Malen entdeckt habe, fühle ich mich sicherer. Es erfüllt mich und hängt nur von mir selbst ab. Es ist schön, mir all die Sachen vorzustellen, die ich nach und nach in den nächsten Jahren bis zu meinem Tod noch lernen werde, die Entwicklung meines künstlerischen Stils zu sehen. Kunst gibt mir das Gefühl, dass Champagner durch meine Adern fließt, statt Blut. Es prickelt in mir.

Wir definierst du Kunst und was ist ein Künstler für dich?

„Künstler“ ist leicht: Eine Person, die Kunst erschafft. „Kunst“ ist schwieriger. Zuerst dachte ich, dass alles, was aus einem kreativen Prozess heraus entsteht, Kunst ist. Doch nach einer Debatte mit einem anderen Künstler, stimmte ich mit ihm überein, dass Kunst auf die Ergebnisse kreativen Schaffens reduziert werden kann, die keine Funktion haben oder nicht für einen bestimmten funktionalen Zweck erschaffen werden, wie Essen, Möbel oder Zeitungsartikel …

Das ist die Magie der Kunst. Sie bereichert unser Leben ohne einen Zweck zu erfüllen. Durch ihre bloße Existenz. Musik hören, ein Gemälde oder eine Skulptur betrachten, ein Gedicht lesen … Ich mag diese Definition von Kunst. Aber es ist mir letztendlich auch egal, was Kunst intellektuell bedeutet. Ich liebe es zu malen und meine Bilder zu zeigen, über die Bilder anderer Künstler zu sprechen und sie anzusehen. Punkt.

Also ist Kunst für dich emotional und niemals funktional? Denkst du, dass beides in einem Gegenstand kombiniert werden kann, wie die Bauhaus Schule es uns zum Beispiel lehrte?

Seitdem ich dieses Gespräch hatte und darüber nachdachte, merkte ich, dass der funktionelle Zweck den poetischen Aspekt zerstört, der Kunst so anziehend und geheimnisvoll macht. Aber ich würde mich auch nicht mit Menschen streiten, die das anders sehen. Ich mag die Vorstellung, dass es zumindest eine Sache in unserer modernen Welt gibt, die nicht funktionieren muss, um wertgeschätzt zu werden.

Gleichzeitig mag ich auch die Idee, funktionellen Gegenständen einen künstlerischen Aspekt zu geben, so dass das Alltagsleben für mehr Menschen künstlerischer und poetischer wird. Aber nicht jeder Designerstuhl ist Kunst für mich und auch nicht jedes Gemälde. Für mich geht es bei Kunst ums Fühlen. Vermittelt ein Kunstwerk ein Gefühl oder nicht?

Die Schlussfolgerung aus alledem könnte sein, dass die Definition von Kunst in meinem Fall sehr persönlich und paradox ist. Ich kann damit leben. Brauchen wir für Kunst eine Definition? Ich finde das sehr interessant … dass wir sogar über solche Dinge gern nachdenken. Aber was ändert das? Menschen werden sich vielleicht nie einig sein, was „Kunst“ ist, und auch das macht sie irgendwie besonders.

Eine der wichtigsten Fragen für jeden Künstler: Wie überwindest du Inspirationskrisen, wenn du welche haben solltest?

Indem ich zu Stift und Papier greife und ein wenig zeichne, wenn mir danach ist, um weniger zu grübeln oder so. Und wenn mir nicht danach ist, dann erlaube ich mir einfach, eine Weile mal nicht zu malen. Vor unserem Shooting hatte ich drei Monate lang nicht gemalt, weil mir einfach nicht danach war. Dann kamst du und wir sprachen beide die ganze Zeit über meine Bilder.

Als du dann wieder weg warst, spürte ich den starken Drang zu zeichnen und zu malen und hatte so viele Ideen. Das ist diese andere inspirierende Facette der Kunst: Du kannst sie mit anderen Menschen teilen und sie geben sie dir zurück. Das erzeugt so ein Gefühl von Fülle und Lebendigkeit.

Wie findest du Kunden und wo verkaufst/zeigst du deine Kunst?

Ich zeige und verkaufe meine Bilder auf dem größten Flohmarkt auf Mallorca in Consell, wo man alles von Ein-Euro-Kleidung bis Mehrere-Tausend-Euro-Designermöbel findet. Da verkaufte ich auch mein erstes größeres Bild „Frida in Gold“. Selbst wenn ich keine Werke verkaufte, war es einfach ein wunderbares Gefühl, sie einem Publikum zu zeigen und die Reaktionen der Menschen zu beobachten. Ich zeige meine Bilder auch auf Instagram und auf meiner Website. Geld ist bei den Bildern kein wichtiger Faktor für mich. Ich biete meine Kunstwerke zum Verkauf an, weil sich das schön anfühlt und ich sie nicht alle für immer in meiner Wohnung aufbewahren kann.

Wie definierst du deine Kunst? In welchem Stil malst du?

Ich möchte meine Kunst nicht analysieren. Genau das ist mir beim Malen wichtig – die Welt um mich herum und meine Psyche endlich nicht mehr zu analysieren, sondern meine Emotionen und Gefühle einfach fließen lassen.

In meinen eigenen Worten würde ich meinen Stil als naiv, melancholisch und farbig beschreiben.

Ich sehe viele tropische Motive in deinen Bildern. Kommt diese Inspiration von den Landschaften hier in Mallorca?

Ich liebe tropische und exotische Pflanzen wie Palmen und Kakteen. Sie faszinieren mich mit ihrer schlichten Schönheit und ihrer Fähigkeit, auch unter schweren Bedingungen zu überleben. Aber die Inspiration Pflanzen zu zeichnen kommt von Frida Kahlos Werken. Ich zog wegen der der mediterranen Natur nach Mallorca, aber merkte gar nicht, dass sie mich inspirierte, obwohl ich Aloe-Pflanzen malte, die ich hier überall sehe, also war es vielleicht eine unterbewusste Inspiration.

Erinnert dich die Überlebensfähigkeit der Pflanzen in der trockenen Wüste an deine eigene Erfahrung?

Es erinnert mich daran, wie ich mich mit meinen Emotionen und meiner Verletzlichkeit unter Menschen fühle, die so kalt miteinander umgehen. Oft fühle ich mich zu zerbrechlich für diese Welt, die mir wie eine Wüste der Emotionslosigkeit erscheint. Ich frage mich, ob viele Menschen sich so fühlen, aber nicht darüber sprechen.

Du hast mir erzählt, dass deine Lieblingskünstler Frida Kahlo und David Hockney sind und ich sehe viele Anspielungen auf ihre Kunst in deinen Werken. Warum sie? Was macht sie so besonders für dich?

Die Farben!!! Die lebendigen Farben, die Melancholie und Stille, Schmerz und Alltagsleben zum Ausdruck bringen. Ich liebe Wasser seit jeher und Blau ist schon immer meine Lieblingsfarbe. Wenn ich David Hockneys „Swimming Pool“ betrachte, spüre ich Lust, darin einzutauchen. Ich liebe es, mit offenen Augen zu tauchen und die Lichteffekte unter Wasser zu sehen. Er bringt sie auf unglaubliche Weise rüber.

Bei den Bildern von Frida Kahlo schätze ich, dass sie sich selbst mit all ihren Makeln und ihrem Schmerz zeigt. Ein Kontrast zu unserer „Instagram-Happy-Face-Gesellschaft“. Ich vermisse oft authentische Menschlichkeit in unseren Interaktionen selbst unter Freunden. Wir alle beschweren uns über andere und gleichzeitig wollen wir geliebt werden, wie wir sind … Während wir versuchen, alles an uns zu ändern, das wir nicht mögen oder von dem wir glauben, dass andere es nicht an uns mögen …

Fridas Bilder bringen den Schmerz der menschlichen Existenz zum Ausdruck. Ich glaube, dass sie deshalb auch außerhalb der Kunstwelt so berühmt ist. Menschen sehnen sich danach, sich so zu zeigen, wie sie sind, aber sie trauen sich nicht. Niemand bringt uns bei, wie wir wir selbst sind und irgendwann haben wir alle keine Kraft mehr, „eine Maske zu tragen“.

Hockneys Gemälde sind anders, aber haben eine ähnliche Botschaft für mich. Sie zeigen dieses „perfekte Bild“ mit Swimmingpools und Sonne, während sie irgendwie traurig wirken, da kein „Leben“ darin ist, sie zeigen eine Art Leere.

Nenne drei der wichtigsten Dinge in deinem Leben.

Lesen, Malen und Schreiben.

Wo siehst du dich in zwanzig Jahren?

Wenn ich in zwanzig Jahren noch am Leben bin, sehe ich mich malen. Mehr als jetzt. Größere Formate, weil ich bis dahin vielleicht ein größeres Atelier habe. Oder kleinere, weil ich bis dahin vielleicht in einem Wohnwagen lebe … Keine Ahnung. Die aktuelle Corona-Krise zeigt mir, dass nichts stabil ist und ich versuche, die Gegenwart bewusster zu erleben. Dieser Augenblick zählt. Ich mache noch nicht einmal Pläne für diesen Winter.

Was macht dich glücklich?

Ich lerne gerade, dass Freude ohne jeglichen Grund entsteht. Wenn wir nichts erwarten. Wenn ich einfach hier und jetzt da bin. Sich des Augenblicks bewusst zu sein und zu sehen, was mich umgibt, und zu atmen.

Und all die kleinen Dinge des Alltags: ein freier Parkplatz, das Lächeln des Menschen, in den ich verliebt bin, mein Lieblingsessen, vor dem Einschlafen im Bett lesen, Stand-up-Paddeln mit meinen Freunden im Sonnenuntergang mit dem fantastischen Blick auf das Meer und die Berge, diese Momente der Dankbarkeit für das Leben, das ich mir gönne, indem ich bewusste Entscheidungen treffe, auch wenn diese immer mit Risiken und Opfern verbunden sind.

Festzustellen, dass Akzeptanz in jeder Situation inneren Frieden erschaffen kann und zu lernen, mich darauf zu konzentrieren, meine Fähigkeit zu trainieren, die Welt und die Dinge so anzunehmen, wie sie sind. Es ist, was ist.

Die Fotos von Sasah Ilushina findest du zusammen mit der englischen Version unseres Interviews hier. Das Titelbild dieses Beitrags ist natürlich auch von ihr. Weitere werden folgen.

Alle meine Gemälde stelle ich auf meiner Online-Galerie aus, wo ich sie auch zum Verkauf anbiete. Sashas Fotos schmücken außerdem meine neue About-Seite.

Anmerkung der Übersetzerin: Am Ende habe ich ein wenig geschummelt und ein paar Sätze hinzugefügt – wenn ich mich schon selbst übersetze, gönne ich mir diese kleine Freiheit.