Der Papalagi

Ich sitze vor dem leeren Bildschirm und weiß nicht, wie ich anfangen soll. Es ist ja doch immer wieder dieselbe Erkenntnis, nur verschiedene Worte für verschiedene Symptome des Elends, das unsichtbar in uns dahinsiecht. Was so viele Mitmenschen als normal hinnehmen, treibt mich zur Verzweiflung. In ihren Augen stimmt mit mir etwas nicht, falle ich aus der Rolle, und das habe ich auch lange Zeit geglaubt, auch wenn Erich Fromm schon 1977 sagte, „die Normalsten sind die Kränkesten und die Kranken sind die Gesündesten“.

Inzwischen stoße ich auf immer mehr Beweislast, dass mein Gefühl mich nicht täuscht. Neu ist, dass ich endlich Stimmen wahrnehme, die nicht von Menschen mit dem gleichen Wohlstandsbackground kommen. In Dauerschleife tönt in meinem Hirn tagein tagaus dieselbe Frage: Was zum Teufel machen wir hier eigentlich?

Die Verletzungen

Es fühlt sich manchmal so falsch an, dass mir übel wird. Was in unserer Gesellschaft als normal gesehen wird, zerstört nicht nur unsere Mitwelt, sondern auch uns selbst und wir wissen es ja spätestens seit Fromm. Warum halten wir daran fest? Warum scheint jeder Vorstoß, diese Lebensweise zu überwinden, so aussichtslos?

A.K. zeigte mir gestern den Film „Captain Fantastic“ auf Netflix. Wir hatten als Genre „Comedy“ eingegeben, auf Google erscheint der Film als Comedy-Drama. Ich weinte fast den gesamten Film hindurch. A.K. hielt mich wahlweise im Arm oder meine Hand. Welch Wohltat, nicht schief von ihm angesehen zu werden. Zumindest zuhause erschaffen wir uns einen kleinen Hafen der Menschlichkeit, wo Gefühle und Leben im Augenblick, wirklicher Austausch und Echtheit, Zuhören und einander kennen und lieben lernen, wie wir sind, und nicht wie wir glauben, dass der andere uns gern hätte, ihren Platz haben.

Der Film ließ mich viele Verletzungen spüren, die ich mit mir herumtrage, ohne sie im Alltag zu merken. Die drei Fehlgeburten, meine Entscheidung weit weg von meiner Familie zu leben und die vielen Jahre Einsamkeit. Vielleicht bin ich gar nicht so gefühlskalt und egoistisch, wie ich dachte, sondern halte es nur so weit weg von meinen Liebsten aus, da ich es kaum ertragen kann, mit anzusehen, wie sehr sie vom System verstümmelt wurden und sich selbst weiter – vor allem für einen sicheren Arbeitsplatz – verstümmeln und das für normal halten. Ich habe ja auch keinen Ausweg für sie. Kann nur für mich selbst versuchen, einen zu finden.

Der Fluchtversuch

Und so flüchte ich mich in den Kopf, meine Gedanken und das Lesen. Lese ein Buch nach dem anderen, bloß nicht aufhören. Lernen, verstehen. Irgendwo muss es doch irgendetwas geben, das mir hilft, nicht verrückt oder tot-lebendig zu werden.

So schlimm ist es ja auch wieder nicht, denke ich oft, und möchte wohl auch der ein oder andere erwidern. Wir leben doch trotz alledem und unser System hat uns auch viele Vorteile gebracht, all die technischen Errungenschaften, es bessert sich alles, mehr Wohlstand für immer mehr Leute … und die Erde geht kaputt und unsere Seele mit ihr. Seit dem klaren Erkennen der allem zu Grunde liegenden großen Lüge, dass ein gutes Leben Wohlstand bedeutet, kann ich dieses Gefasel nicht mehr zulassen – doch auch ich lebe darin und bin so sehr daran gewöhnt, dass ich natürlich auch Angst habe, ihn zu verlieren.

Als ich bei meiner Freundin Petra auf der Couch sitze und wieder einmal von meinen Grübeleien, inneren Konflikten und von den Büchern erzähle, die ich gerade lese – zwei Bücher aus dem Rubikon-Verlag zur Corona-Krise –, unterbricht sie mich und drückt mir zum ersten Mal in den fünf Jahren, die wir nun befreundet sind, Bücher aus ihrem Regal in die Hände.

Die Dummheit der Intelligenten

„Es reicht, Elisa! Du darfst auch mal etwas Leichtes lesen, etwas Lustiges.“ Und so entdecke ich „Der Papalagi – Die Reden des Südseehäuptlings Tuiavii aus Tiavea“, das für jeden „Westler“ Pflichtlektüre sein sollte. Es zeigt mir keinen Ausweg, aber erleichtert mein Herz von der Last des Zweifels an meiner Wahrnehmung, dass die Menschen in den reichen Industrieländern tatsächlich krank sind.

Wenn „wir“ also vom Menschen sprechen, davon, dass es „zu viele“ Menschen gibt, dann zeigt auch dies „unsere“ Ignoranz und Arroganz. Wie kommen wir überhaupt darauf, dass alle Menschen so sind wie „wir“ hier in den reichen Industrieländern, und wieso ist es so schwer, uns selbst zu hinterfragen und von anderen Menschen zu lernen, die anders leben als wir, ihnen zuzuhören und uns von ihnen helfen zu lassen, anstatt zu glauben, wir hätten die Weisheit mit Löffeln gefressen und seien dazu bestimmt, den Menschen in den armen Ländern zu helfen, während unsere Industrie sie für unseren Wohlstand ausbeutet.

Diese Scheinheiligkeit und Verlogenheit machen mich wütend. Die Arroganz und Dummheit unserer „Intelligenz“ lösen Scham in mir aus. Die Unfähigkeit, uns kollektiv einzugestehen, dass wir selbst unter uns leiden, dass wir nicht glücklich sind und uns gewaltig irren mit unserer Lebensweise, löst Mitleid in mir aus. Was für arme, dumme, verkrüppelte Seelen …

Das „dumm“ bezieht sich vor allem auf alle von uns, die sich für intelligent halten – mich eingeschlossen. Ja, sogar auf alle Systemkritiker, die mit klugen Analysen und Gedanken die Ausbeutung anprangern, auf der unser Wohlstand fettleibig vor sich hin gammelt. Denn irgendwie schauen wir dabei immer auf die anderen. Den US-Imperialismus, die korrupten Eliten afrikanischer und lateinamerikanischer Länder, die machtgeilen Politiker und Konzernbosse Europas und des Westens. Nur uns selbst schauen wir nicht an.

Der Spiegel

Der Südseehäuptling Tuiavii aus Polynesien hält uns einen Spiegel vor, in dem wir uns nun einmal selbst betrachten können. Dabei schrieb er seine Beobachtungen über die Europäer nie für uns nieder, sondern für seine polynesischen Landsleute, um sie vor „uns“ zu warnen. Der Papalagi, das sind wir, die Weißen, Fremden, wörtlich „Himmelsdurchbrecher“ für den ersten weißen Missionar, der in Samoa landete. Dabei sind seine Worte weder anklagend und noch vorwurfsvoll, sondern eher staunend und verwundert über unsere Verhaltensweisen. An manchen Stellen musste ich lachen, wie zum Beispiel hier:

„Der Papalagi liebt das runde Metall und das schwere Papier (Geld, Anm. von Elisa), er liebt es, viel Flüssigkeit von getöteter Frucht und Fleisch von Schwein und Rind und anderen schrecklichen Tieren in seinen Bauch zu tun, er liebt vor allem auch das, was sich nicht greifen lässt und das doch da ist – die Zeit. Er macht viel Wesens und alberne Rederei darum.

Obwohl nie mehr davon vorhanden ist, als zwischen Sonnenaufgang und -untergang hineingeht, ist es ihm doch nie genug. (…) Er zerschneidet (den Tag, Anm. von Elisa) geradeso, als führe man kreuzweise mit einem Buschmesser durch eine weiche Kokosnuss. Alle Teile haben ihren Namen: Sekunde, Minuten, Stunde. Die Sekunde ist kleiner als die Minute, diese kleiner als die Stunde; alle zusammen machen die Stunden, und man muss sechzig Minuten und noch viel mehr Sekunden haben, ehe man so viel hat wie eine Stunde. 

Das ist eine verschlungene Sache, die ich nie ganz verstanden habe, weil es mich übel anmacht, länger als nötig über solcherlei kindische Sachen nachzusinnen. Doch der Papalagi macht ein großes Wissen daraus. (…) Es gibt aber auch schwere und große Zeitmaschinen, die stehen im Innern der Hütten oder hängen an den höchsten Hausgiebeln, damit sie weithin gelesen werden können. Wenn nun ein Teil der Zeit herum ist, zeigen kleine Finger auf der Außenseite der Maschine dies an, zugleich schreit sie auf, ein Geist schlägt gegen das Eisen in ihrem Herzen. Ja, es entsteht ein gewaltiges Tosen und Lärmen in einer europäischen Stadt, wenn ein Teil der Zeit herum ist.

Wenn dieses Zeitlärmen ertönt, klagt der Papalagi: ‚Es ist eine schwere Last, dass wieder eine Stunde herum ist.‘ Er macht zumeist ein trauriges Gesicht dabei, wie ein Mensch, der ein großes Leid zu tragen hat; obwohl gleich eine ganz frische Stunde herbeikommt.“

Der Beruf

Tuiavii beschreibt so herzerfrischend bildhaft und einfach, was ich so lang als vages Gefühl mit mir herumschleppte und nimmt mir allein dadurch eine Last von der Seele. In seinen Texten wird auch klar, wie er und seine Landsleute leben, dass es tatsächlich anders geht! Auch hier nur ein Beispiel zum Thema Beruf:

„Jeder Papalagi hat einen Beruf. Es ist schwer zu sagen, was dies ist. Es ist etwas, wozu man viel Lust haben sollte, aber zumeist wenig Lust hat. Einen Beruf haben, das ist: immer ein und dasselbe tun. (…) Jeder weiße Mann muss und sollte einen Beruf haben. Aus diesem Grunde muss jeder Papalagi (…) entscheiden, welche Arbeit er sein Leben lang tun will. (…) Wenn nun der Papalagi (der Matten flechten als Beruf gelernt hat, , Anm. von Elisa) später einsieht, dass er lieber Hütten bauen als Matten flechten würde, sagt man: Er hat seinen Beruf verfehlt (…). Dies ist ein großer Schmerz; denn es ist gegen die Sitte, nun einfach einen anderen Beruf zu nehmen. (…)

In diesem Nur-eines-Können liegt ein großer Mangel und eine große Gefahr (…) Der große Geist gab uns unsere Hände, dass wir die Frucht vom Baume, die Taroknolle aus dem Sumpfe heben können. Er gab sie uns, unseren Leib zu schützen gegen Feinde, und er gab sie uns zur Freude bei Tanz und Spiel und allen Lustbarkeiten. Er gab sie uns aber sicher nicht, dass wir nur Hütten bauen, nur Früchte brechen oder Knollen heben, sondern sie sollen unsere Diener und Krieger sein zu allen Zeiten und bei allen Gelegenheiten. Das begreift aber der Papalagi nicht.

Dass sein Tun aber falsch ist, grundfalsch und gegen alle Gebote des großen Geistes, erkennen wir daran, dass es Weiße gibt, die nicht mehr laufen können, die viel Fett ansetzen am Unterleib wie ein Puaa (Schwein, , Anm. von Elisa), weil sie stets rasten müssen, von Berufs wegen, die keinen Speer mehr heben und werfen können, weil ihre Hand nur den Schreibknochen hält, sie im Schatten sitzen und nichts tun als Tussi (Briefe, Anm. von Elisa) schreiben, die kein wildes Ross mehr lenken können, weil sie nach den Sternen sehen oder Gedanken aus sich selber ausgraben. Selten kann ein Papalagi noch springen und hüpfen wie ein Kind, wenn er im Mannesalter ist. Er schleift beim Gehen seinen Leib an der Luft und bewegt sich fort, als ob er dauernd gehemmt sei. (…)

Doch der Beruf schadet dem Papalagi noch in anderer Weise (…). Es ist eine Freude, eine Hütte zu bauen, die Bäume im Walde zu fällen und sie zu Pfosten zu behauen, die Pfosten dann aufzurichten, das Dach darüber zu wölben und am Ende, wenn Pfosten und Träger und alles andere gut mit Kokosfaden verbunden sind, es mit dem trockenen Laub des Zuckerrohres zu decken. (…) Was würdet ihr nur sagen, wenn nur wenige Männer aus dem Dorfe in den Wald dürften, um die Bäume zu fällen und sie zu Pfosten zu schlagen? Und diese wenigen dürfen nicht helfen, die Pfosten aufzurichten, denn ihr Beruf wäre es, nur Bäume zu fällen und Pfosten zu schlagen? (…)

Ich lacht, und so würdet ihr auch sicherlich sagen: Wenn wir nur eines und nicht alles mittun dürfen und nicht bei allem helfen sollen, wozu Manneskraft dient, so ist unsere Freude nur halb – sie ist gar nicht. Und ihr würdet sicher als einen Narren erklären jeden, welcher von euch derweise forderte, eure Hand nur zu einem Zwecke zu benutzen, geradeso, als seien alle anderen Glieder und Sinnen eures Leibes lahm und tot.“

Wie absurd scheint unsere Art zu leben aus dieser Perspektive heraus. Rückenschmerzen, Fettleibigkeit, Depressionen … unsere Normalität macht uns krank. Nur ein wenig mehr zu leben, wie die Polynesier es zumindest zur Zeit von Tuiavii Ende des 19. Jahrhunderts noch taten, könnte verschiedenste Probleme unseres Systems auf einmal lösen.

Der Irrtum

Tuiavii bittet seine Landsleute eindringlich, uns nicht zu glauben, wenn wir sie mit unseren Errungenschaften locken wollen. Er sieht uns als arm und in Finsternis lebend an, in die wir die anderen Wesen mit hineinziehen wollen, während wir uns einbilden, alle wollten so leben wie wir und die Flüchtlinge wollen alle nach Europa, weil wir es so wundervoll vormachen.

Tatsache ist, die Flüchtlinge kommen unfreiwillig, weil wir ihre Länder mit unserer „Finsternis“ überziehen, ihre Umwelt zerstören, ihre Menschen ausbeuten oder Waffen an die in ihren Ländern ebenfalls erkrankten Menschen liefern …

Unser Irrtum, Wohlstand bedeute ein gutes Leben, ist für mich der Aspekt, an dem wir ansetzen können. Wenn wir uns diesen Irrtum eingestehen, ist meines Erachtens ein Meilenstein für die Heilung der Menschheit und Natur erreicht.

Ab dem Augenblick, wo wir diesen Irrtum erkennen, können wir individuell und als Gesellschaft lernen, anders zu leben. Dabei können wir von anderen Menschen in anderen Teilen der Welt so viel lernen.

All die kleinen Baustellen, für die wir unsere Experten haben und zu denen viele kluge Köpfe forschen und schreiben, wie Gleichberechtigung, Rassismus, Finanzsystem, Politik, Wirtschaft, Technologie, sie alle heilen nach dieser Erkenntnis synergetisch mit.

Die Maschine

Wer fühlt, wer das Leben mit allen Sinnen wahrnimmt, wer sich in seiner Gemeinschaft aufgehoben und sicher fühlt, der unterdrückt niemanden mehr, der braucht keine neue Technologie für irgendetwas, weil er alles in der Natur findet, was er wirklich braucht. Er nutzt die Technologie, die ihm dient, macht aber selbst, was ihm Freude macht, auch wenn es länger dauert und harte Arbeit ist. Tuiavii bringt es so auf den Punkt:

„Die Maschine ist die stärkste Keule des Papalagi. (…) Und schwach ist der unter uns, liebe Brüder, der diesen Wundern des Papalagi unterliegt, der den Weißen anbetet um seiner Werke willen (…). Denn sosehr alle Wunder und Fertigkeiten des Papalagi unsere Augen staunend machen können – im klarsten Sonnenlichte betrachtet, bedeuten sie wenig mehr als das Schnitzen einer Keule und das Flechten einer Matte, und alles Tun gleicht nur dem Spielen eines Kindes im Sande. (…) So haben alle seine Wunder doch eine heimliche, unvollkommene Stelle, und es gibt keine Maschine, die nicht ihren Wächter braucht und ihren Antreiber. Und jede birgt in sich einen heimlichen Fluch.

Denn wenn auch die starke Hand der Maschine alles macht, sie frisst bei ihrer Arbeit auch die Liebe mit, die ein jedes Ding in sich birgt, das unsere eigenen Hände bereiteten. Was gälte mir ein Canoe und eine Keule von der Maschine geschnitzt, einem blutlosen, kalten Wesen, das nicht von seiner Arbeit sprechen kann, nicht lächeln, wenn sie vollendet, und sie nicht der Mutter und dem Vater bringen kann, damit auch sie sich freuen. Wie soll ich meine Tanoa liebhaben, wie ich sie liebhabe, wenn eine Maschine sie mir jeden Augenblick wieder machen könnte ohne mein Zutun?“

Was brauchen wir, um uns diesen Irrtum einzugestehen und die einfache Freude wiederzuentdecken?

Die 155 Seiten mit den Beobachtungen von Tuiavii können ein erster Spiegel sein. Halten wir ihn uns kollektiv vor. Erkennen wir, dass wir in den reichen Industrieländern die Armen sind, die Hilfe brauchen, und hören wir auf, andere mit unserem Wohlstandsfluch „beglücken“ zu wollen. Vielleicht begreifen wir sogar einen bald über uns hereinbrechenden Finanzcrash als Segen, die Subsistenzwirtschaft in kleinen Gemeinden wieder zu kultivieren, eine andere Lebensweise wieder zu erlernen, in der wir Dinge, Menschen, Tiere, Pflanzen und die Erde wieder lieb haben.

Ich träume vor mich hin, schließe den Laptop und steige aufs Fahrrad, um Mati beim Unkraut zupfen in seinem Garten zu helfen. Die 3.000 Biogemüsepflänzchen, die wir vor vier Wochen mit anderen Freunden zusammen dort in die Erde gesetzt haben, gedeihen. Ich kann die Gesellschaft nicht ändern, aber in meinem Alltag lebe ich meinen Traum in kleinen Schritten, auf kleiner Ebene, schon jetzt und beweise mir selbst, dass ich nicht die Welt retten aber sehr wohl etwas bewirken kann.