Der heilsamste Ort

„Egal, was die Menschheit veranstaltet, der Wald stand daneben und schwieg.“

Opa suchte Schutz im Wald. Vom schwarzen Nachthimmel schwebten die Bomben herab wie Funken eines Feuerwerks.

Ängstlich hockte er als Kind zwischen den Bäumen und bewegte sich nicht. Der Tod hing in der Luft wie unsichtbare, scharfe Klingen. Der Waldboden war weich und von den Scherben des Krieges durchfurcht.

Opa ist tot. Seit vier Jahren. Seine Angst lebt weiter. In meinen Albträumen, die mich verfolgen, seitdem ich ein kleines Mädchen bin. Dann ist es eine Wohltat aufzuwachen und die Welt, in der wir heute leben, zu schätzen zu wissen.

Als Opa noch lebte, spazierte ich oft mit ihm durch den Wald. Er erklärte mir viel über Baumarten, zeigte mir Pilzsorten und sprach über dies und jenes. Doch ich hörte nur mit einem Ohr zu. Meine Aufmerksamkeit galt dem Gefühl im Wald.

Er strahlt diese Ruhe aus. Bei Wind wiegen sich die Kiefern hin und her, erfüllen die Stille mit ihrem Knarzen und dem Rauschen der Zweige.

 „Den Wald hatte er schon geliebt, lange bevor er ihm gehörte.

Ganz anders als in der Welt der Menschen besaß hier alles einen Sinn. Was hier existierte, bot einem anderen Wohnung oder Nahrung. Was verging, diente dem Überleben des Nächsten.

Sterben bedeutete hier keinen Skandal. Es war nur eine unter vielen Funktionen des Seins.

Im Wald gab es Töten ohne Hass, Fortpflanzung ohne Liebe, Kooperation ohne Gesetze, Ernährung ohne Wissenschaft und Lebensfreude ohne Philosophie.

Im Wald herrschte eine gelassene Zweckmäßigkeit, der sich Kron mit erleichtertem Aufatmen überließ. Für eine Weile durfte er aufhören, eine Persönlichkeit zu sein und deshalb alles persönlich zu nehmen.

Er konnte einfach am Fuß der Kiefer sitzen und sich ohne jede Anstrengung logisch fühlen.“

Ich stelle mir vor, wie ich inmitten der hohen Bäume stehe und die Augen schließe. Allein und doch mit allem verbunden.

Dann legt der Wald ein unsichtbares Pflaster auf meinen geplagten Geist, umhüllt mich mit einem sanften Schleier Lebendigkeit.

Wenn du am Leben verzweifelst, wenn du einen schlechten Tag hast, wenn alles irgendwie Mist ist, geh in den Wald und lass dich fallen. Aus der Kunstwelt der Gedanken raus und in das echte Leben hinein.

Auch zuhause kannst du in eine wohltuende, andere Welt eintauchen und ganz nebenbei noch wertvolle Erkenntnisse mitnehmen, indem du liest. Heute empfehle ich dir den Gesellschaftsroman „Unterleuten“ von Julie Zeh, aus dem die Zitate in diesem Artikel stammen.

Sei es dir wert.

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