Stufen

Wo fange ich an? Meine Gedanken befinden sich im freien Fall. Ich kann sie nicht greifen. Im Magen ein Knoten. Mir ist schlecht. Habe mir trotzdem ein Bier aufgemacht. Draußen und hier auf dem Sofa ist es kalt. Grau. Eklig. Trostlos. Ich möchte schon wieder aufhören zu schreiben, doch was soll es bringen? Mich von den Gedanken und Emotionen in die Leere fallen lassen? Ich verstehe nichts mehr.

 

Ich bin 38 Jahre alt. Drei Fehlgeburten. Viele Beziehungen. Und noch immer weiß ich nicht, was Liebe sein soll, wo mein Platz in dieser Welt ist. Ich stocke. Finde keinen Halt. Auch nicht in den Worten, aber aufhören ist keine Option. Sobald ich aufhöre zu tippen, sitze ich da und starre ins Leere. Diese ewige Leere, die mein Leben umgibt. Immer wieder schwanke ich zwischen Euphorie und Desillusion. Gerade das fühlt sich dann doch beinahe wie eine Mitte zwischen beiden Extremen an.

 

Ich wollte lernen, zu fühlen. Doch was fühle ich? Fühle ich allein oder immer nur auf andere bezogen? Auf Äußeres bezogen. Menschen oder Projekte. Was soll das alles? Wer hat einmal bestimmt, dass das Leben schön ist? Was heißt es, alles zu haben? Privilegiert zu sein? Wenn ich es doch nicht fühle. Wenn es mir nichts gibt.

 

Vielleicht sollte ich doch endlich wieder mit dem Dankbarkeitstagebuch anfangen? Als M. damals ging und mich zurückließ mit meinem Schmerz und der Leere darunter, brachen eklige Gefühle aus mir hervor. Ich konnte nicht allein sein, ohne diese Panik und die Übelkeit auf mich einstürzen zu fühlen.

 

Nun kommen wir mit A.K. an diesen Punkt, wo er uns eingesteht, dass er nicht das fühlt, was dafür sorgt, dass wir uns entscheiden, eine Beziehung mit einem Menschen einzugehen. Er hatte es einmal. Vor einem Jahr, als wir zusammenzogen und noch eine Weile danach. Wann hörte es auf? Und warum? Was erschafft diese Gefühle in uns und die Sicherheit, dass wir mit einem Menschen zusammenleben wollen? Und was sorgt dafür, dass es wieder aufhört?

 

Was kann ich anders machen? Ich gebe mein bestes. Was heißt das? Ich versuche, ich selbst zu sein. Meine Emotionen zuzulassen, sie zum Ausdruck zu bringen. Das war dann mit A.K. oft Freude über unser Zusammenleben, über seine Gegenwart und seine Zuneigung. Doch er empfindet das nicht so. Ich kann kaum weiterschreiben.

 

Die Gedanken werden schwer und träge, während ich tippe. Er musste jetzt los zur Fahrschule. Und so sitze ich hier. Weiß nichts mit mir anzufangen, obwohl ich eine Übersetzung machen muss und die Zeit dafür nutzen könnte. Doch es widerstrebt mir. Ich will diese unangenehmen Gefühle jetzt nicht wegdrücken. Wegtrinken dann schon eher. Ein Schluck kaltes Bier. Skol International. Das billigste Bier aus dem Hipermercado. 40 Cent für eine Dose. Billiger als Brot. Es schmeckt ok.

 

Ghost miaut. Er will aus dem Wohnzimmer raus. Ich habe die Tür geschlossen, weil die Heizung an ist. Nun muss ich kurz aufstehen, um ihn rauszulassen. Ein Seufzer. Was werden wir nun tun? Ich weiß es nicht. Seit Monaten wälzen wir in Gesprächen alle Möglichkeiten hin und her. Nun kitzelte ich es aus ihm heraus, weil ich den Druck erhöhte und diese Unsicherheit kaum mehr aushielt.

 

Wir können es nicht vergleichen. Jeder Mensch ist anders. Er erinnert mich an mich damals, als V. und ich in Lyon ewig diskutierten, wie es mit uns weitergehen sollte. Unsere Beziehung lief super, von den Eigenschaften her passten wir gut zusammen, aber ich fühlte einfach nicht das, was ich brauchte, um ihm einen festen Platz in meinem Leben zu geben. Ich war traurig, als er fuhr. Und irgendwie auch erleichtert. Ob es A.K. so gehen wird, wenn er hier auszieht? Ich kann es mir noch nicht vorstellen …, dass er hier auszieht.

 

Wir verstehen uns gut und könnten perfekte Mitbewohner sein. Wenn ich nicht immer wieder die Hoffnung hätte, dass er mich verliebt in den Arm nimmt, dass er an mich denkt, wenn wir nicht zusammen sind, dass er Lust hat, mit mir den Tag zu verbringen. Also wird es wohl nicht anders gehen, als dass er auszieht.

 

Ich bin nun fast 39 und mein ständiger Begleiter – das Alleinsein – wartet wieder einmal geduldig auf mich. Ich kann gut allein sein. Dann habe ich zumindest keine Erwartungen mehr an jemanden, die jeden Tag aufs Neue enttäuscht werden und nach und nach eine immer tiefere Wunde in meinem Gemüt graben.

 

Dumpf. Mein Kopf ist dumpf. Mein Herz auch. Hoffnungslos. Dabei empfinde ich dieses Mal zumindest keine Verzweiflung. Eher eine nüchterne Akzeptanz, dass es nun eben so ist, wie es ist.

 

Selbstmitleidgedanken flüstern mir zu, wie ungerecht es ist. Das Leben. Es schenkt mir sämtliche Privilegien und Fügungen, nur nicht das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit. Egal ob mit jemand anderem oder zumindest in mir selbst.

 

Nun halte ich doch inne und lasse meinen Blick auf die Dächer vor dem Fenster und die dahinterliegenden dunkelgrauen Berge unter mittelgrauen Wolken gleiten. Da bleibt er kurz hängen und dann schreibe ich doch weiter. Meine Finger sind kalt. Das Bier verstärkt die Übelkeit im Magen.

 

Ich gebe mich hin. Zuerst wollte ich schreiben, „ich gebe auf“, doch das geht nicht, denn egal was passiert, das Leben geht weiter. Selbst mit dem Tod eines Menschen, geht das Leben für andere Menschen und die Welt weiter.

 

Also schreibe ich, „ich gebe mich hin“. Es fühlt sich an wie mich in eine heiße Badewanne gleiten lassen. Die Augen schließen und erst einmal nichts weiter tun zu müssen. Weiter atmen, vielleicht ab und zu einen Schluck Bier. A.K. kommt irgendwann wieder nach Hause. Irgendwann zieht er wahrscheinlich aus. Und ich? Was will ich? Was mache ich dann? Ich werde es sehen.

 

Ich habe keine Lust mehr auf Selbstwirksamkeit. Oder auf diesen Selbstwirksamkeitsdruck. Es gibt Dinge, auf die habe ich keinen Einfluss. Zumindest keinen absichtlichen, den ich steuern könnte. Ich kann mich nur treiben lassen. Von einer Minute zur nächsten, von einem Tag zum nächsten und irgendwann scheint dann auch wieder die Sonne und der Frühling kommt und neue Menschen tauchen in meinem Leben auf, Samen gehen in meinem Inneren auf, die ich jeden Tag aufs Neue säe.

 

Es kann nicht umsonst sein. Ich gebe mir Mühe. Ich grabe mich aus dem Gefühl der Sinnlosigkeit heraus. Irgendwann werde ich wieder anders fühlen. Oder vielleicht zum ersten Mal etwas ganz Anderes. Ein langanhaltendes Gefühl von Lebendigkeit. Ohne Druck und Zwang. Einfach ein Fließen. Ich habe nun verstanden, dass ich dafür andere Menschen brauche.

 

Ich werde erst in der Begegnung mit Menschen selbst zu einer Person, die ich wahrnehme und sehe und fühle. Also werde ich eben das Gleiche tun wie immer, mich um mich selbst kümmern. Dieses Mal nicht durch Isolation und Selbstfürsorge im sicheren Zuhause, sondern im Café, beim Reitunterricht, den ich am Freitag dank Nancy anfange, beim aktiven Organisieren von Treffen mit Menschen, die vielleicht zu Freunden werden und zum Teil auch schon dazu geworden sind. Romantische Liebe ist eine Illusion und zumindest weiß ich auch, dass Menschen sich in Langzeitbeziehungen vielleicht sogar einsamer fühlen als ich mit mir allein.

 

Ghost ist wieder da und auf meinen Schoß geklettert. Die dicke Katze zwängt sich zwischen mich und meinen Laptop, der auf meinen Knien liegt. Ich sehe nur den halben Bildschirm. Das Schreiben half. Ich fühle mich etwas besser. Wohlan denn, Herz, nimm Abschied (von der Illusion der ewigen Liebe mit A.K.) und gesunde. Es geht wieder eine Stufe weiter. Und dann kratzt doch wieder die Hoffnung unter der Oberfläche meines Herzens, dass A.K. dort wieder zu mir findet.