Morgenseiten

Ich sitze auf der Terrasse, um wieder diese blöde Schreibübung zu machen. Bin in den letzten Tagen wieder sehr trübselig und mit tausend Zweifeln unterwegs. Wird mein Leben immer so sein? Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt? Glücklich allein ist die Seele, die liebt?

Ich fühle wieder einmal nichts. Das macht mir so zu schaffen. Desto mehr „Liebe“ um mich herum deklariert wird, desto belasteter und schwerer fühle ich mich. Das kann doch keine Liebe sein.

Ich weiß gar nicht, was Liebe ist. Ich will einfach keine Erwartungen mehr haben. Ich will nicht mehr an Jaime und mir zweifeln, sobald wir uns streiten oder er seine Sachen herumliegen lässt. Ich will alles so annehmen, wie es ist, und einfach meinen Weg gehen. Ohne zu entscheiden, welcher Mensch in meinem Leben bleibt oder nicht — kann ich das überhaupt? — oder mich für deren Leben und Verhalten verantwortlich fühlen.

Warum kann ich das nicht loslassen? Ich will alles loslassen.

Ich will Leichtigkeit. Hiersein Lebendigkeit. Verbindung zum Universum. Zu meiner geliebten Erde. Da ist sie! Die Liebe. Meine GELIEBTE Erde. Ich liebe sie. Den Boden, den Himmel, die Pflanzen, den Wind.

Jaime umarmt mich gerade. Die Sonne kommt heraus. Ich sitze auf der Terrasse. Jetzt fühle ich Erleichterung. Das war sehr süß, wie Jaime gerade dazu kam. Er hat meinen zweiten Pantoffel gefunden, den ich beim Aufstehen vergeblich suchte, und trägt nun meine viel zu kleinen Hausschuhe. Er ist ein guter Partner. Was auch immer das bedeutet. Meine Ängste sind die Last, nicht die anderen Menschen.

Die anderen Menschen sind die einzige Möglichkeit, die Ängste zu besänftigen, sie zu heilen. Falsche Glaubenssätze aufzulösen. Wie das geht? Da muss ich Anna zitieren:

„Eine Methode gibt es nicht, aber es funktioniert.“

Ich atme durch. Jaime spielt mit Ghost. Jetzt steht er hinter mir, massiert mir den Nacken und quatscht mich voll. Fragt mich, was ich hier über ihn schreibe. Macht mit seinen Händen ein Herz und sagt, ich soll es dazuschreiben und lacht. Der Mann hat Leichtigkeit.

Komisch, dass er meine Muttersprache nicht versteht. Wird er sie jemals verstehen? Ist er dann noch der gleiche Mensch? Würde er auf Deutsch so lustig sein?

Ghost räkelt sich in der Sonne auf den orangeroten Fliesen. Jetzt greift er Jaime an, der mich auf den Kopf küsst. Eine Fliege setzt sich zu mir auf die Armlehne der Terrassenbank. Die Novembersonne wärmt meinen Rücken.

Auf einmal sieht die Welt ganz anders aus. Ich fühle mich leichter. Das Schreiben tat gut.

Die Fliege sitzt nun vor mir auf dem Tisch, reibt ihre Vorderbeinchen aneinander und schaut neugierig auf meine geschriebenen Seiten. Manchmal stelle ich mir vor, in den Fliegen sind Seelen von Toten, die uns Gesellschaft leisten wollen. Ich nenne sie alle Fliegi. Jetzt krabbelt sie näher an meine Notizen heran.

Neben mir steht mein Kaffee und ein aufgeschnittener Apfel. Ich ziehe die fette Strickjacke aus, schaue auf die Berge in der Ferne hinter der Terrassenmauer und atme durch. Fliegi setzt zum Flug an.

Diese Zeilen schrieb ich für die Übung namens „Morgenseiten“ aus dem Buch „Der Weg des Künstlers“ von Julia Cameron. Leider kann ich mich nicht immer dazu aufraffen. Manchmal genießen wir es wohl einfach, uns in unserem Gedankensud und Seelendreck zu wälzen, aber wenn wir doch einmal wirklich da rausfinden wollen, eignet sich diese Übung ganz gut, wie mein sehr privates Beispiel dir hoffentlich zeigt.

Probiere es aus. Schreibe von Hand drei Seiten eines Tagebuchs oder Notizbuchs voll, bevor du in den Tag startest.

Sei es dir wert.