Eine Zeitreise

Mein erster Schluck Kaffee nach zehn Tagen. Ein Traum. Jakobs Krönung, wie nur Oma ihn zubereiten kann. Letzte Woche war ich zum dritten Mal fasten und nun sind auch die Aufbautage mit Genussmittel-„Verbot“ geschafft. Ich lehne mich angenehm satt zurück und löchere Omi mit Fragen zu ihrer Kindheit und ihrer Jugend und vor allem zu ihren Eltern.

Sie erzählt und ich klebe an ihren Lippen. Als sie acht war, flüchtete sie mit ihrer Mutter und drei Jahre älteren Schwester mit dem Zug von Zöllichau – heute Sulechów in Polen – bis hierher nach Südbrandenburg, um beim besten Freund meines vermissten Uropas Unterschlupf zu finden. Er nahm sie auf, doch seine Frau war nicht begeistert und ließ das die drei Geflüchteten spüren.

So suchte meine Uroma sich eine gut bezahlte Arbeit als Verladerin im Glaswerk und mietete ein Zimmer bei einem einsamen, älteren Geschäftsmann mit im Haus. Jeden Abend stopften Oma und ihre Schwester die zerrissenen Handschuhe ihrer Mutter. War sie liebevoll zu ihnen trotz der harten Gegebenheiten? Oma lächelt und bejaht. Das war sie.

„Und dein Papa?“, hake ich nach. Durch den Rundfunk erfuhren sie, dass er auf der Krim vermisst war, später kam die schriftliche Bestätigung. „Auf der Krim? In der Ukraine?“, frage ich aufgeregt. „Ja, auf der Krim.“

Mein Herz schlägt höher, ein merkwürdiges Gefühl durchströmt meine Adern.

Vor ein paar Wochen rief mein Vater mich an und erzählte euphorisch von einer Sendung, die er auf NuoViso gesehen hatte. Darin ging es um einen Büffelzüchter aus Deutschland, der in die Karpaten in der Westukraine ausgewandert ist und diese Tiere dort vor dem Aussterben rettete.

Mein Vater gehört eher zu den Bedenkenträgern und wenig hoffnungsvoll in die Zukunft blickenden Menschen. Ich weiß nicht, ob ich ihn je so begeistert erlebt habe. Ich sehe mir die Sendung ebenfalls an und beim nächsten Telefonat beschließen wir, Michel Jacobi, den „Büffelflüsterer“, in der Ukraine zu besuchen. Ich möchte einen Artikel über ihn schreiben, sehe mich schon als Reporterin durch die Wälder zwischen den Büffeln umherkriechen, um Eindrücke festzuhalten und auf Rubikon zu veröffentlichen. Mein Ego hängt seinen Tagträumen nach, wie ich meinen Traum von einem Leben als Schreiberin weiterentwickle.

Doch es steckt mehr dahinter. Eine tiefe Verbundenheit und Neugierde für dieses Land. Ich schreibe Michel an und er antwortet, dass er mich nicht entmutigen wolle, aber viele Westeuropäer schafften es trotz Vorhaben nicht bis zu ihm, da die Anreise bis nach Transkarpatien zwei Tage dauert.

Jetzt erst recht, denke ich mir freudig. Es fasziniert mich, dass wir in elf Stunden in Mexiko sein können, aber zwei Tage bis nach Mitteleuropa brauchen. Ich schreibe Stefan Korinth, der für Rubikon viele Beiträge zur Ukraine verfasst. Er gibt mir hilfreiche Tipps, Buch- und Filmempfehlungen und bestärkt mich in meinem Wunsch, dieses Land zu entdecken.

Ich beginne einen Ukrainisch-Online-Kurs, um dort halbwegs zurecht zu kommen, denn Michel warnte uns vor, dass wir mit Englisch nicht weit kommen. Kyrillisch müssen wir schon allein deshalb lesen können, um am richtigen Bahnhof auszusteigen. Das wollte ich schon immer. Osteuropa und Russland faszinieren mich, seitdem ich in Leo Tolstois „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“ eingetaucht war.

Ein ungeahnter Elan treibt mich an. Stefan Korinth empfiehlt mir das Buch „Lemberg – die vergessene Mitte Europas“. Ich habe gestern Abend im Bett wieder darin gelesen und konnte dann vor Bauchkribbeln und Aufregung nicht mehr schlafen.

Was macht diese Reise schon jetzt mit mir? Ich war in Mexiko, Thailand, Kuba, Japan, Kolumbien, Tunesien und Bulgarien – nie hatte ich mich so auf eine Reise vorbereitet oder gefreut. Wobei Freude nicht das richtige Wort ist. Es ist ein anderes Gefühl, eine Art Forscherdrang und Verbundenheit, der ich nachgehen möchte oder beinahe muss. Es zieht mich förmlich etwas in die Ukraine.

Wie der „Zufall“ oder was auch immer es will, sitzt in meinem Co-Working-Büro ein Ukrainer. Bisher grüßten wir uns nur flüchtig, doch nun sprach ich ihn an. Er kommt aus Lemberg. Ich konnte es kaum glauben. Die Ukraine ist fast doppelt so groß wie Deutschland. Da haute es mich schon von den Socken, dass er ausgerechnet aus der Stadt kommt, über die wir anreisen werden und die mir Stefan Korinth ans Herz legte. Eine Stadt, in der die Geschichte Europas konzentriert und noch hautnah spürbar ist, wie Lutz Klevemann in seinem Buch über Lemberg schreibt. Jetzt verstehe ich auch, warum sie ständig anders geschrieben wird – Lwiw auf Ukrainisch, Lwów auf Polnisch, Lemberg auf Deutsch.

Doch zurück zu meiner Faszination. Ich lese immer mehrere Bücher auf einmal, da ich mich nicht entscheiden kann, welches ich zuerst lesen soll. Eine meiner sonstigen Lektüren ist gerade das Buch „Die geheimen Ängste der Deutschen“ von Gabriele Baring. Darin untersucht sie, wie die Traumata der Kriegskinder an ihre Kinder und Enkel vererbt werden, solange sie totgeschwiegen und verdrängt werden. Furcht, Depression, Bindungsunfähigkeit und die Neigung zur Selbstzerstörung sind für viele Menschen dieser Generation die Folge. Zukunftsangst und Weltuntergangsstimmung bestimmen ihr Lebensgefühl. Das passt zu vielen Rubikon-Lesern und Kritikern der Mutmach-Redaktion, denke ich, während ich das lese. Sie schreibt:

„Verschwiegener Schmerz und unterdrückte Trauer lasten auf uns. Die kollektive Verdrängung betrifft den Einzelnen, die Familien und das gesellschaftliche Leben (…)“.

Ich beginne, den Griesgram und das Beharren auf „Negativität“ so einiger Menschen, mit denen ich Diskussionen hatte, besser zu verstehen. Sie wissen wahrscheinlich selbst nicht, was da in ihnen los ist und halten es einfach für den Normalzustand.

Ein Absatz berührte mich besonders:

Die Vorfahren verstehen

Vergegenwärtigt man sich die tiefen Gräben, die sich in Deutschland zwischen Kriegskindern und Kriegsenkeln auftun, wird die Dringlichkeit nach Aussöhnung deutlich. Sie ist nach meiner Erfahrung die einzige Chance, um den vielen verzweifelten Kriegsenkeln den Weg in ein glückliches Leben zu ebnen. Andernfalls bleiben sie Opfer alter Verletzungen, gefesselt in unbewussten Verstrickungen, die sich als solche nicht ohne weiteres erkennen lassen.“

Und jetzt kommt das Wichtigste, der Grund für diesen Text auf meinem Blog über „Selbstliebe“ und einen „liebevolleren Umgang mit uns selbst und unseren Mitmenschen“:

„In der Familie lernen wir, dass wir einander aushalten können, trotz aller Widersprüche, trotz allem Störenden, das uns gegen unsere Angehörigen aufbringt. Wenn wir auf diese Erfahrung verzichten, glätten wir unsere Biografien künstlich. Dadurch machen wir uns kleiner, verlieren an Gewicht, werden weniger. Dann blenden wir die Eigenartigen, Schrägen, die Komischen, die Anstrengenden und die mit Schuld beladenen aus, an denen wir die Bereitschaft zur Aussöhnung entwickeln könnten.

Was wir bei ihnen ablehnen, können wir auch bei uns selbst nicht akzeptieren. Indem wir uns ihnen allen ohne Ausnahme urteilslos nähern, können wir auch die schwierigen, problematischen Anteile in uns selbst bejahen.

Wir hören auf, mit uns zu hadern und nach einer unerreichbaren Perfektion zu streben. Das ist eine der Grundlagen jeder Selbstliebe, die Folge der Bereitschaft zu umfassender familiärer Nächstenliebe.“

Es sind so viele Informationen und Eindrücke, die auf einmal alle zu meiner Faszination für die Ukraine und Russland und ihre Sprachen – meine andere Oma stammt aus Königsberg in Ostpreußen – passen.

Ich fühle mich wie ein Detektiv auf den Spuren der Vergangenheit, um heutigen Schmerz und heutige Kälte zwischen den Menschen zu verstehen. Die Gespräche mit meiner Oma sind heilsam. Noch vor ein paar Jahren waren sie undenkbar. Warum eigentlich? Was hat sich geändert? Fragte ich früher nach, wurde vom Thema abgelenkt. Warum kann sie jetzt so frei reden? Warum habe ich den Eindruck, das befreit nicht nur sie, sondern auch mich?

Nach dem Frühstück bitte ich Oma, alte Fotos hervorzukramen. Ich möchte ein Bild von meinem auf der Krim verschollenen – und wahrscheinlich verstorbenen – Urgroßvater sehen, um den nie getrauert wurde, da bis heute nicht klar ist, wann und wie er starb. „Die letzte Kugel ist für mich“, habe er immer gesagt, erzählt Oma von ihrem Vater! Was hat das mit ihr als Kind gemacht?

Ich empfinde tiefe Liebe und Dankbarkeit für all das, was ich gerade entdecke und erfahre. Ich sehe Fotos von der Ururoma – ihr Name ist Anna, wie meine Therapeutin. Die Tante meiner Oma, von der ich noch nie gehört hatte, hieß Frieda, wie meine Katze und meine Lieblingsmalerin.

Das können alles Zufälle sein, sie fühlen sich wie Verbindungspunkte an. Wie ein Anker im Zeitgeschehen. Heilsam. Was ich sonst als unerklärlichen Weltschmerz empfinde, erhält so vielleicht eine gewisse Grundlage, die ich verstehen kann. Vielleicht ist es Trauer um die Menschen, deren Blut noch in geringer Menge auch durch meine Adern fließt. Sie leben in mir weiter. Ein schöner Gedanke.

Was wissen Sie über die Geschichte Ihrer Familie? Darf darüber gesprochen werden? Empfinden Sie eine gewisse Neugierde?

Meine eigene Wissbegierde auf meine Wurzeln ist ganz neu. Erst, seitdem ich die Ukraine-Reise plane und das Buch über die „geheimen Ängste der Deutschen“ lese.

Lassen Sie uns auf Zeitreise gehen. Vielleicht bewegt es auch in Ihnen etwas, hilft Ihnen, gewisse Dinge zu verstehen, stärkt unsere Verbindung zwischen den Generationen und somit in der Gesellschaft, das Verständnis für unsere Unterschiede und auch die Härte und Ablehnung mancher Menschen, wenn man versucht auf sie zuzugehen oder Lebensfreude zu verbreiten.

Mir jedenfalls hilft es, die anderen so anzunehmen, wie sie sind und endlich, nicht mehr „alle bekehren“ zu wollen. Eine Erleichterung.
Von der Ukraine-Reise werden Sie hier oder auf Rubikon lesen. Ich habe keine Ahnung, was mich dort erwartet. Mal abgesehen von tonnenschweren Büffeln, riesigem Urwald und Erfahrungen außerhalb meiner Komfortzone. Lebendigkeit prickelt in mir empor.

Die Frauen auf dem Titelbild sind meine Oma und ihre Schwester in ihrer Jugend. Es versprüht Lebensfreude – nach einer Kindheit, die von Armut und Flucht und dem Verlust des Vaters geprägt war, ein heilsamer Anblick, der offenbart, wie vielschichtig das Leben ist.