Ich drücke den Klingelknopf. Höre Schritte. Die Tür geht auf. Meine Nichte starrt mich erschrocken an.
„Wer ist da, Sophia?“
Bevor sie antworten kann, kommen sie neugierig blickend den Korridor entlang. Mama, Papa, Nancy und David. Die ganze Familie. Auch sie starren mich erschrocken an.
„Was ist los?“, fragt meine Schwester in einer Mischung aus Sorge und Panik.
Meine Kehle ist zugeschnürt, die Tränen trüben meinen Blick. Ich zucke mit den Schultern und stammle die einzige Antwort, die mir dazu einfällt:
„Ich weiß es nicht.“
Da stehe ich nun. Gestern buchte ich spontan einen Flug von Mallorca nach Deutschland für dreihundertfünfzig Euro, um Mama heute zu ihrem Geburtstag zu überraschen. Auf der Fahrt vom Flughafen hierher plötzlich dieser Heulkrampf. Ich stand eine halbe Stunde schluchzend und verloren im Hausflur, bis ich feststellte, dass die Tränen so schnell nicht aufhören zu fließen.
„Alles Gute zum Geburtstag, Mama.“, bringe ich nicht sehr überzeugend hervor und falle ihr in die Arme. Stille. Die anderen tauschen verwirrte und besorgte Blicke aus. Was tun? Wie sollen sie mit mir umgehen? Ich kann ihre Fragen und Unsicherheit spüren.
„Ich möchte mich bitte einfach nur hinlegen. Mehr nicht.“, höre ich mich mit erstickter Stimme sagen. Ich ziehe die Schuhe aus und schlürfe an meiner Familie vorbei in das Schlafzimmer meiner Eltern. Lege mich auf das Bett in die Dunkelheit und starre an die Decke.
Mein Vater läuft wie ein Tiger im Käfig nervös durch die Gegend und überlegt laut vor sich hin, ob er mich in eine Klinik einweisen soll, meine Mutter flüchtet in die Küche und macht den Abwasch, meine Schwester geht mit dem Hund raus, mein Neffe spielt mit dem Handy und meine Nichte legt sich zu mir, kuschelt sich in meinen Arm.
Absolute Stille. Wir sagen nichts. Ich schluchze ab und zu. Werde nach und nach ruhiger. Fühle mich schlapp, müde und wie Blei nach unten gezogen.
Mama kommt ins Zimmer und legt sich zu uns. Ebenfalls ohne ein Wort zu sagen. So liegen wir eine Zeit lang da und ich beruhige mich.
„Eine tolle Überraschung, was, Mama?“, unterbreche ich die Stille mit ein wenig Humor. Mama lächelt mich liebevoll an.
Ich spüre eine Verbindung, die ich noch nie zwischen uns spürte. Als sei eine Last von uns genommen worden.
„In ein paar Minuten müssen wir uns zurecht machen für die Feier im Restaurant.“, seufzt Mama, „Ich habe überhaupt keine Lust. Immer diese Feiern.“
Plötzlich muss ich lachen.
„Warum organisierst du sie dann?“
Wir lachen alle drei. Warum machen wir Menschen ständig Sachen, auf die wir keine Lust haben?
Eine Stunde später sitzen wir alle im Restaurant verteilt zwischen meinen Tanten, Onkeln, Omas und den Freunden meiner Eltern. Von weitem werfen wir uns die ganze Zeit Blicke zu und lächeln uns an. Ich fühle mich sanft und aufgehoben, verbunden mit meiner Familie und mit mir selbst.
Mein Körper wusste anscheinend, dass er uns allen einen Gefallen tut, indem er sich meinen Überraschungsbesuch in Deutschland für das Druck ablassen in Form von Tränen aussucht.
Seit einem Jahr mache ich eine Therapie und nutze die Einsamkeit meiner Anfangszeit auf Mallorca, um „in mich hineinzuhören“, mich im Nichtstun, allein mit mir und meiner Terrasse, zu üben, wie meine Therapeutin es mir riet.
Das ständige Lächeln und Ablenken von meinen wahren Gefühlen hat sehr viel Kraft gekostet. Erst jetzt merke ich es. Wie lange ich versuchte, meiner Familie, meinem Umfeld und vor allem mir selbst, etwas vorzumachen.
Wie viel Traurigkeit kann ein Mensch in sich tragen, ohne es zu merken? Eine Frage, die ich mir immer wieder stelle, wenn ich so einen kleinen Ausbruch habe.
Dank der Übungen meiner Therapeutin kommen meine innersten, längst verdrängten Gefühle wieder an die Oberfläche.
Mein Körper entscheidet sich anscheinend gern dafür, sie in den unpassendsten Augenblicken heraussprudeln zu lassen. Beim Überraschungsbesuch zum Geburtstag meiner Mutter, im Dorf meines Freundes auf Mallorca vor all seinen Freunden, alleine auf offener Straße.
Erst war es mir peinlich, doch ich hatte ja eh keine andere Wahl. Ich kann diese Gefühlsausbrüche gar nicht mehr zurückhalten. Und möchte es auch nicht.
Ich bin meinem Körper dankbar, denn die vor meinen Mitmenschen ausgelebte Traurigkeit baut jedes Mal eine zarte Brücke zwischen uns auf. Nach den ersten Beklemmungen entspannen wir uns alle und ein paar kostbare Augenblicke lang befinden sich keine Wände zwischen uns.
Wichtig dabei ist, dass ich meinem Gegenüber sage, wie sie sich verhalten sollen. Aus Unsicherheit und Gewohnheit ist der erste Reflex zumeist, dass sie mich trösten möchten.
„Hör doch auf zu weinen. Du hast doch gar keinen Grund. Sei nicht traurig.“, soll mich beschwichtigen. Zur Ruhe bringen. Wieder den Schein aufbauen, dass doch alles gut ist.
Sie meinen es nicht böse, doch es ist brutal. Da kommen endlich Gefühle hoch und die Menschen, die uns lieben, wollen sie wieder zurückstopfen, weil sie nichts damit anzufangen wissen. Weil sie sie nicht verstehen und nicht einordnen können. Weil ich selbst sie meistens nicht verstehe und einordnen kann. Ich kann sie nur fühlen.
Als ich meiner Familie – aus dem Bauch heraus – sagte, ich wolle mich hinlegen, half ich ihnen und so ließen sie mich einfach weinen.
Ich muss mich selbst daran gewöhnen. Wenn Menschen in meiner Gegenwart weinen, bin ich auch noch ab und zu versucht, sie trösten zu wollen.
Dann erinnere ich mich, wie gut mir das Weinen tut, und lasse sie. Höre ihnen zu, nehme ihre Hand, umarme sie. Je nachdem, was sich in dem Moment richtig anfühlt. Manchmal sitze ich auch nur schweigend neben ihnen. In diesen Momenten erlebe ich diese kostbare Verbindung, für ein paar kostbare Augenblicke.
Ich wünsche uns allen, dass wir den Mut finden, unsere Traurigkeit auszuleben, allein im stillen Kämmerlein und umgeben von unseren Mitmenschen.
Für echte Verbindungen zwischen echten Menschen.
Sei es dir wert.
Hinter dem Reflex, Dich trösten zu wollen, verbirgt sich vielleicht auch die Angst und Scham deines Gegenübers, sich selbst mit eigenen, ähnlichen Gefühlen zu konfrontieren.