Die Macht der Mütter

Ich bin hin und weg. Emilie lieh mir ihr Exemplar des französischen Buchs „La puissance des mères“ von Fatima Ouassak. Beim Lesen schwanke ich zwischen Fassungslosigkeit, Lachen und einem kraftvollen Drang, mich einzumischen. Die Geschichte einer Frau, die zur Aktivistin wurde, weil ihre Bitte nach vegetarischem Essen für ihre Kinder in der Schule aufgrund ihrer arabischen Herkunft völlig missverstanden wird. Doch sie gibt nicht so schnell auf. Sie schließt sich mit anderen Eltern zur „Front des mères“ zusammen, die sich in Frankreich für Chancengleichheit, gesundes, natürliches Essen, ein Ende der Polizeigewalt und vor allem eine schöne Zukunft unser aller Kinder einsetzt. Für unseren deutsch-französischen Lesezirkel zum Thema Care und Fürsorge präsentierte Hélène Coron das Buch von Fatima Ouassak. Da ihre Eindrücke mir aus dem Herzen sprechen, veröffentliche ich hier eine Übersetzung von Hélènes Buchrezension.

von Hélène Coron

Als Leserin gehe ich nicht auf die gleiche Weise an politische, wissenschaftliche oder historische Bücher heran – die ich langsam in mich aufnehme, Sätze hervorhebe, mir fleißig Notizen in meinem Notizbuch mache – wie an Romane und Erzählungen – die ich gierig verschlinge, hektisch umblättere und förmlich aufsauge.

Fatima Ouassak ist keine Romanautorin, sie ist Politikwissenschaftlerin und Dozentin. Ihr Buch ist ein Manifest, politisch und engagiert. Und doch ertappte ich mich dabei, dass ich es so las, wie ich es auch bei den spannendsten Geschichten getan hätte. Zweifellos, weil sie uns in ihre eigene Geschichte mitnimmt : Die Geschichte einer arabischen Mutter aus Bagnolet, die mehrfache Diskriminierungen erfährt und beobachtet, bevor sie daraus ihre Kraft und ihren Kampf schöpft und sich mit anderen zusammenschließt, um Macht zu erlangen und – wie sie es nennt – ein Drache zu werden.

Der erste Teil des Buches ist emotional schwer zu ertragen – so sehr spiegelt er eine harte Realität wider – und doch furchtbar notwendig.

Wir erleben mit ihr ihren Alltag als arabische Frau aus der Arbeiterklasse, als Schwangere und dann als Mutter. Es lässt sich in einem Satz zusammenfassen: „Wir leiden unter Diskriminierung vom Mutterleib bis ins Grab.“ Die Mutterschaft zwingt ihr ein tief verwurzeltes Paradox auf: auf der einen Seite die Kraft, die sie als Mutter empfindet, das instinktive Bedürfnis, ihr Kind zu beschützen, die Welt für es zu verändern, und auf der anderen Seite die sozialen Auflagen eines Systems, das von ihr erwartet, diskret zu sein, sich zu beugen, zu schweigen und gynäkologische Gewalt während der Geburt oder auch die zahlreichen Diskriminierungen des Lehrpersonals gegenüber ihren Kindern stillschweigend zu ertragen.

Durch verschiedene wiedergegebene Dialoge, zwischen arabischen Eltern und Lehrern, berichtet sie von einer Schule, die ein Problem hat mit „dem Haar, wenn es kraus ist, der Muttersprache, wenn sie arabisch ist, mit der Religion, die der Islam ist“. Es sind einfache Situationen, fast banal in ihrem Kontext, gewöhnlicher Rassismus vor dem Hintergrund von Spielplätzen und Kinderspielen, und doch packen sie einen beim Lesen an der Gurgel und lassen einen aufbegehren.

Sie erzählt die Geschichte ihres Kampfes als Mutter, die eine überzeugte Umweltschützerin ist und möchte, dass ihre Kinder Lebensmittel essen, die die lebendige Welt respektieren. Sie ging hin und schlug dem Elternverband vor, in der Kantine ein vegetarisches Menü einzuführen, was sofort als religiöse Parteinahme für Halal-Fleisch interpretiert wurde. Sie wird ausgeschlossen, isoliert, als Radikale behandelt. Denn wo eine weiße Frau mit der gleichen Rede einfach als Öko-Mutter des Jahres qualifiziert würde, die sich um die Gesundheit ihrer Kinder sorgt, wird sie, eine arabisch-muslimische Mutter, als Bedrohung des Säkularismus wahrgenommen.

Als ich diese Zeilen las, war ich aufgewühlt, empört, ich wollte aufstehen und mit ihr kämpfen, ich sagte zu mir: „Wenn ich einer dieser Elternteile gewesen wäre, hätte ich sie verteidigt, ich hätte an ihrer Seite gestanden!“ Zumindest denke ich gerne, dass ich das getan hätte … denn gleichzeitig war ich von einem Gefühl der Scham erfüllt.

Obwohl ich eine engagierte Feministin bin, habe ich nie wirklich aktiv über die Schwierigkeiten dieser Mütter aus Arbeitervierteln nachgedacht, die sich in vielerlei Hinsicht von meinen Problemen als weiße Frau aus einem Mittelschicht-Hintergrund unterscheiden. Jenseits der Empörung, die ihre Geschichte in mir auslöst, spüre ich darin einen pädagogischen Nutzen, eine Sensibilisierung für die Realität dieser Frauen.

Das Buch nimmt eine optimistischere Wendung und verwandelt sich in ein politisches Projekt. Sie erzählt, wie sie es geschafft hat, durch Selbstorganisation, durch den Zusammenschluss mit anderen Müttern und durch die Gründung der Mütterfront – „Front des Mères“ von Bagnolet, Siege zu erringen, anerkannt zu werden und Türen zu öffnen, Barrieren zu durchbrechen: „Mit 7 Leuten könnten wir, wenn wir entschlossen sind, eine Stadt verändern.“ Während das System von den Müttern erwartet, dass sie ihren Kindern beibringen, ihre Herkunft, ihre Unterschiede und ihre Werte zu verleugnen, um sich in einem rassistischen und inegalitären System in die Masse zu integrieren, entschieden sie sich für den umgekehrten Weg und stellten die Weitergabe ihres Erbes in den Mittelpunkt ihres Projekts.

Die Mütterfront setzt sich nicht nur aus Müttern zusammen, sondern ihre Besonderheit besteht darin, sie als zentrales politisches Subjekt existieren zu lassen, das einen gerechten Kampf führt, weil er auf der Liebe zu ihrem Kind basiert. Mütter sind hier politische Subjekte.

Fatima Ouassak stößt einen Hoffnungsschrei aus: Nichts ist in Stein gemeißelt! Es gibt überall Mütter und sie schlägt vor, dass sie sich in einem sozialen (gegen Rassismus, Ausgrenzung) und ökologischen Kampf für ein gemeinsames Interesse vereinen: das der Kinder.Obwohl ich keine Mutter bin, erkenne ich mich in diesem politischen Projekt wieder, das Fürsorge, Toleranz und Respekt vor dem Lebendigen in den Mittelpunkt stellt und damit eine radikale Abkehr von den üblichen Programmen vornimmt, die das gegenwärtige System als unveränderlich akzeptieren und nur winzige Verbesserungen bringen.

Obwohl dieser Weg komplex und voller Fallstricke ist, bin ich mir der Notwendigkeit dieser radikalen Veränderung zutiefst bewusst. Der Optimismus von Fatima Ouassak und die Kraft, die sie im Kollektiv findet, sind in der Dunkelheit dieses Kampfes Schimmer der Hoffnung und Inspiration.