Willkommen im Leben

Als wir nach zwei Monaten im Mai letztes Jahr endlich wieder an die frische Luft durften, fühlte es sich an wie ein großes Volksfest. Ich werde das Gefühl nie vergessen, als meine Füße umgeben von hunderten Menschen endlich wieder Strandsand berührten und ich meine Freunde ohne Angst vor Strafe mit dem Fahrrad besuchte.

Genauso wenig werde ich vergessen, wie sich mein Magen zusammenschnürte und wie verkümmert ich mich während der zwei Monate Ausgangssperre allein in meiner Wohnung ohne Umarmungen und Geselligkeit fühlte. In diesen zwei Monaten schwor ich mir, nach dem Spuk voll und ganz ins Leben zu springen.

Mir wurde bewusst, wie ich selbst immer wieder die Einsamkeit gewählt hatte, da zwischenmenschliche Beziehungen für mich mit meinen Selbstzweifeln, Ängsten vor Ablehnung und den extrem ausgefeilten Fühlern für das Befinden meiner Gegenüber zu Anpassungszwecken sehr anstrengend waren.

Die komplette Ausgangssperre, ein ganzer Frühling in Einzelhaft im goldenen Käfig meiner Wohnung mit Terrasse ließen mich schlagartig die Endlichkeit des Lebens spüren. Wie oft hatte ich nur in Gedanken und nur hypothetisch an Methoden gedacht, meinem Leben ein Ende zu setzen, weil ich an der Sinnleere unserer Normalität verzweifelte. Und nun war sie plötzlich da: Die Lebendigkeit, der Durst nach Leben, nach dem ich mich immer gesehnt hatte.

Ich stürzte mich in einen geselligen Sommer, ging zu allen Treffen mit Bekannten, die zu Freunden wurden, sprach mit Menschen, fühlte mich dank meiner Entschlossenheit selbstbewusster und erlebte Tage am Strand, gesellige Abende mit Gitarre und Gesang auf meiner Dachterrasse.

Ich meldete mich nach Monaten der Trauer um die verflossene Beziehung und Illusion von Liebe und Seelenverwandtschaft sogar auf Tinder an und konnte meine Vorurteile und Abneigung in tollen Begegnungen verpuffen lassen. Ein Tool ist ein Tool. Es kommt darauf an, wie wir es nutzen.

Ich nutzte es freudvoll, vorsichtig und neugierig. Eine Woche, zwei schöne, zwei enttäuschende und ein großartiges Date später löschte ich die App wieder. Meine Begegnung mit A.K. war vielversprechend und reichte mir. Wir lernten uns ohne große Erwartungen einfach kennen. Keine dramatische Verliebtheit, dafür liebevolles Kennenlernen.

Er spielt Gitarre und singt, ich male. Wir beide denken viel nach, meistens rede ich viel, er hört zu, manchmal redet er, ich höre zu. Er macht Wein, wir beide trinken ihn gern. Sitzen am Lagerfeuer im Garten der Freunde, bei denen er wohnt.

Das Jahr neigt sich dem Ende, wir sind irgendwie zum Paar geworden, ich bekomme Panik und denke an Trennung. Ich wollte ja eh nicht so schnell wieder eine Beziehung. Heiligabend fahre ich zu ihm, er spürte meine Zweifel, wir beide dachten, wir würden uns an dem Abend trennen. Schließlich waren es unsere Muster: Er wurde „immer“ verlassen, ich rannte „immer“ weg, war nicht in der Lage zu einer natürlichen und liebevollen, gesunden Beziehung.

Wir setzten uns in den Garten, bevor es dunkel wurde und redeten über unsere Ängste und Muster. Ich wollte nicht mehr weg, lehnte mich stattdessen erleichtert an seinen Arm. Selbstsabotage ade. Wir verbrachten den ganzen Abend am Lagerfeuer, lachten uns schlapp, tranken seinen selbstgemachten Wein und aßen seine hausgemachte Pizza.

Ihm war ein Buch bei mir aufgefallen: Der Weg des Künstlers von Julia Cameron. Ich hatte ihm bei einem gemeinsamen Wochenende davon erzählt und er schlug vor, dass wir ab Januar zusammen diesen Weg gehen: Ein zwölfwöchiges Programm mit Übungen, um blockierte Künstler wieder in die Schaffenskraft zu bringen.

Am 3. Januar ging es los. Wir begannen jeden Tag damit, die Morgenseiten zu schreiben. Direkt nach dem Aufwachen drei Seiten, egal worüber, spontan vollzuschreiben. Am Sonntag machten wir zusammen die Übungen der Woche, um Klarheit zu gewinnen. Dazu gehörte es auch, Synchronizität zu beobachten, also „göttliche Fügungen“, die mancher schnell als Zufälle abtun würde.

Was soll ich sagen: Nach vier Wochen beschlossen wir, irgendwann zusammenzuziehen und fanden sofort die absolute Traumwohnung im Traumort zum Traumpreis mit einer Traumaussicht und bekamen sie, obwohl alle uns immer wieder sagten, wie schwer es wäre, in diesem Ort überhaupt irgendeine Wohnung zu finden, da er so beliebt sei.

Die Wohnung ist groß genug, um einen Raum nur für unsere Künste zu nutzen. Endlich ein richtiges Atelier, wo ich auch große Bilder malen kann.

Ich traf Emilie, eine Französin, die mit der Sonne um die Wette strahlt und entschlossen ist, groß zu träumen. Zusammen mit ihrer ebenso inspirierenden Freundin Axelle gründeten sie Positive Lab Berlin und luden mich zum Mitmachen ein. Wir riefen den französisch-deutschen Lesezirkel Œkoféminothek ins Leben. Ich tauchte in die erkenntnisreiche Welt des Ökofeminismus ein, wurde immer schlauer und demütiger zugleich, erkannte, setzte um, traute mich aus der Komfortzone und moderierte unsere erste zweisprachige Veranstaltung mit.

Währenddessen spielte A.K. zuhause Gitarre und sang. Ich konnte und kann bis heute nicht genug davon hören. Seine eigentliche Leidenschaft gilt jedoch dem Schlagzeug. In unserem neuen Dorf fanden wir sofort Anschluss, aßen und essen weiterhin bei neuen Freunden zu Abend, bekommen spontane Besuche zum Kaffee. Unter den neuen Bekanntschaften zwei Musiker. Einer suchte einen Schlagzeuger. A.K. ist Linkshänder, das Schlagzeug, das bereits auf ihn im Proberaum wartete, ist für Linkshänder. Synchronizität wie sie in Camerons Buche steht.

In der Ausgangssperre begann ich von Permakultur zu träumen. Davon, mich sicherer zu fühlen, wenn ich weiß, wie und wo Nahrung wächst. Ein Freund aus unserem Ort hat ein riesiges Feld, beginnt dort Biogemüse anzubauen und freut sich über Hilfe. In zwei Wochen soll es losgehen, wenn er das Bewässerungssystem fertig gestellt hat. In der Zwischenzeit halfen wir bereits beim Gärtnern und ich bekam einen Vorgeschmack, Muskelkater und glückselige Erschöpfung inklusive.

Im Februar erhielt ich eine Mail von Christina. Ich verabredete mich mit der mir völlig unbekannten Rubikon-Leserin zum Kaffee und es war Freundschaft auf den ersten Blick. Wir beide träumen vom Schreiben, von Büchern, mit denen wir zum Ausdruck bringen, was in uns unsichtbar vor sich hin schwelt.

Sie hat sogar schon eines über Books on Demand erschaffen, das ich mir prompt bestellte und verschlang. Es ist kurz und hat es in sich, hinterließ ein bedrückendes Gefühl und eine tiefe Erkenntnis. Ich kann nicht anders, als sie zum Weiterschreiben zu ermutigen. Wie schön, die gleiche Leidenschaft mit einem anderen Menschen vor Ort zu teilen. Ihr Mann ist Musikproduzent. Südamerikaner genau wie A.K.

Wir trafen uns zu viert und der Funke sprang auch bei den Männern über. Neue Freundschaften, neue Verbindungen, geteilte Leidenschaften, eine Band und Musikaufnahmen für A.K., zwei Ausstellungen in vielbesuchten Kultcafés in Aussicht für mich.

Ich lebe. Ich habe mich noch nie so lebendig und glücklich gefühlt wie in dieser Zeit, in der alles zusammenzubrechen und abgetötet zu werden scheint – in einer Welt, die ich mehr durch Medien wahrnehme, als im eigenen Alltag.

In meiner Welt erblühe ich zu neuer Lebendigkeit, zu Schaffensdrang und Ideen. Ich erkenne, wie machtvoll eine klare Ausrichtung meines Geistes für mein eigenes Leben ist und möchte diese Macht nun auch für mein Wirken in der Gesellschaft nutzen. Träumen wir nicht nur als Individuen, sondern auch als Gesellschaft. Als „Team Mensch“, wie einer meiner Lieblingsautoren in seinem neuen Buch „Wer, wenn nicht Bill?“ vorschlägt.

Mitten in der Unsicherheit fühle ich mehr Zuversicht denn je. Es geht. Wenn wir bereit sind, uns auf den Weg des Künstlers zu machen. Und bereits Joseph Beuys wusste:

„Jeder Mensch ist ein Künstler“ (1).

Und dass in der Kunst eine revolutionäre Kraft liegt. Stürzen wir uns endlich ins Abenteuer Leben. Raus aus dem toten Konsummüll, hinein in Gemüseanbau, Geselligkeit und Natur.

 

Quellen und Anmerkungen:

(1) „Jeder Mensch ist ein Künstler – Im Mai wäre Joseph Beuys 100 Jahre alt geworden | DW Nachrichten