Erwachsen

„Wir haben kein Wort für das Gegenteil von Einsamkeit, aber wenn es eins gäbe, könnte ich sagen, genau das will ich im Leben.“

Kurz nachdem sie diese Zeilen schrieb, starb Marina Keegan bei einem Autounfall im Alter von 22 Jahren. Ich entdeckte ihr kleines Büchlein „Das Gegenteil von Einsamkeit“ vor ein paar Jahren in meiner deutschen Buchhandlung in Palma. Die Worte wandern immer wieder durch meinen Kopf. Als ich ihre Essays und die Einleitung von ihrer Professorin zum ersten Mal las, weinte ich, als hätte ich eine enge Freundin verloren.

Inzwischen sind keine Ahnung wie viele Jahre vergangen. Diesen Sommer fühlte ich mich so glücklich, erfüllt und leicht, wie seit meiner Aufbruchstimmung in meinem Austauschjahr in Lyon nicht mehr. Damals war ich 22. So alt wie Marina, als sie starb.

Mein Glücksrausch diesen Sommer überraschte mich sehr, denn ich fühlte mich gleichzeitig gekränkt und verlassen. Im Mai kämpfte ich noch viel mit meinen quälenden Gedanken daran, dass Juan mich verlassen hatte und nun in eine andere Frau verliebt war.

Als er es mir am Telefon sagte, wurde mir schwindelig und mir war, als zerbräche wirklich etwas in meinem Brustkorb. Gleichzeitig war da diese Stimme, dass dies der Moment ist, wo ich wirklich lerne, mich zu lieben.

Ich fuhr die meisten meiner Sachen und kleineren Möbel allein aus unserer gemeinsamen Wohnung in Binissalem mit dem Auto zu meinen Freundinnen Antje und Joana nach Andratx. Sie hatten noch einen Platz frei in ihrer Finca. Mir widerstrebte es bei ihnen einzuziehen, weil sie Mutter und Tochter sind und starke Charaktere haben, wir uns bisher vielleicht drei bis viermal im Jahr sahen. Doch ich wusste nicht, wo ich sonst hin soll, und warum nicht einfach vorrübergehend. So würde ich lernen müssen, mich zu behaupten. Und ich lernte es, und wir feierten es zusammen.

Auf den vielen Fahrten im Auto mit meinem ganzen Hab und Gut weinte ich zur Musik von Marty West und fühlte mich elend. Klein. Unwichtig. Unerwünscht. Und gleichzeitig wusste ich, dass es nicht stimmte. Ich fühlte den Schmerz, und kaum saß ich mit den Mädels in unserem neuen Zuhause, fühlte ich mich wie ausgewechselt. Wie in einem Wunderland. Oder Hollywood-Film.

Auf einmal waren sie in meinem Alltag, diese beiden Freundinnen. Aus drei Frauen wurde eine Gemeinschaft. Das hatte ich mir seit dem Surfcamp letztes Jahr gewünscht. In Gemeinschaft zu leben, in der Küche ein kurzer Plausch, gemeinsam essen, abends beisammensitzen. Draußen sein.

Ich lag nun allein in meinem Bett, aber wachte neben dem weit geöffneten Fenster auf und blickte über unseren Pool und den großen Garten mit über dreißig Mandelbäumen, Palmen, Feigenbäumen und dem Zitronenbaum, an dem ich mir ständig den Kopf stoße.

Mein System kam völlig durcheinander: Was nun? Sind wir jetzt glücklich und unglücklich? Eines Abends fragte Antje mich, ob ich meinen Gefühlen glaube? Erst verstand ich ihre Frage nicht, aber mir fiel nach und nach auf, dass ich mich nur elend fühlte, wenn ich an Juan und seine Gefühle für seine neue Freundin dachte. Wenn ich an andere Dinge dachte, ging es mir so gut wie lange nicht. Das half. Ich achtete mehr und mehr auf meine Gedanken und gab ihnen Beschäftigung. Stürzte mich in mein Fernstudium, eine Buchidee, Artikel, Bücher über Umwelt- und Friedenslösungen.

Und ich buchte eine Reise, die mich nach langer Zeit wieder begeisterte: Zum ersten Mal seit Jahren wieder allein und ins Unbekannte. Ich flog zu Tara nach Lissabon, verbrachte dann 10 Tage in der Friedensforschungsgemeinschaft Tamera in Südportugal und fuhr von dort weiter nach Süden zu Antonio nach Cádiz.

Das Leben beschenkt mich mit all diesen Erfahrungen. Ich traf diesen Sommer mehrere tolle Männer und es gelang mir zum ersten Mal, die Begegnungen mit ihnen als besonders zu empfinden, ohne eine romantische Geschichte dazu dichten zu müssen. Ich erlebte auch Enttäuschungen und lernte daraus viel über mich.

Nun geht dieser lange Sommer auch hier auf der Insel langsam zu Ende und ich fühle mich erwachsen. Ich erscheine jeden Tag auf meiner Übungsmatte, um weiter zu lernen, gesunde Grenzen zu setzen, mir zu verzeihen, wenn ich Fehler mache, mir bewusst zu machen, wie sehr die Angst, etwas falsch zu machen, mich stresst und wie ich sie nach und nach loslassen kann … Manchmal gelingt es mir und das Glücksgefühl, das mich dann durchströmt, zeigt mir, wie viel es noch zu entdecken gibt. Die Magie des Lebens trägt mich. Alles geschieht, wie durch Fügung, wenn ich nur achtsam meinen Gedanken und meinem Körper lausche und dann entsprechend handle.

Die Zeit in Tamera hat mir Lust auf mehr gemacht. Die Menschen dort erforschen im Alltag und auf ihrem Land so viele Ansätze für eine friedliche Welt im Einklang mit dem Leben, aber vor allem arbeiten sie an sich selbst. An ihrer Verbindung zur Magie des Lebens, die auch die Schöpferkraft von uns Menschen beinhaltet. Ich habe zwei Sätze mitgenommen, die mich immer wieder besänftigen, wenn die Außenwelt oder zwischenmenschliche Beziehungen mich überfordern:

„Es gibt eine Macht in mir, die allgegenwärtig, allwissend und allvermögend ist. Sie weiß, was meinem Wohle dient und wie es bewirkt wird. Göttlichen Ursprungs, wirkt sie in meinem Wesen, in meinem Körper und darüber hinaus in meiner Umgebung ordnend und harmonisierend, führend, helfend und heilend in dem Maße, wie ich mich für ihre Weisung offen und empfänglich halte.“ (K.O.Schmidt)

„Denke, sprich und handele so, dass in dir Frieden entsteht.“

Mich durchströmt eine warme Dankbarkeit dafür, nun endlich zu erfahren, dass ich auch ohne einen Liebespartner Erfüllung erlebe. Und vor allem das Gegenteil von Einsamkeit. Ich habe das Glück, noch am Leben zu sein und mich im Alltag immer wieder daran zu erinnern, dass das nicht selbstverständlich ist.

Ich fühle meine Ängste davor, alleine alt zu werden, und auch die Angst vor Krieg und Armut. Und ich beobachte, wie sie sich von selbst auflösen, wenn ich sie nicht wegdrücke, sondern zulasse. Mir begegnen auf einmal noch mehr Menschen, mit denen ich mich verbunden fühle, die auch intensiv und wahrhaftig leben wollen, die den Frieden in sich suchen, und mir das Gegenteil von Einsamkeit schenken.