Ein Land, das einfach verschwand

Da sitzt sie.

Die kleine Elisa. Am Abendbrottisch und isst ihre Schnitte.

Ihre zwei Jahre ältere Schwester sitzt am gleichen Tisch. Elisa ist neidisch auf sie, denn sie ist Pionier. Mit so einem hübschen weißen Blüschen und einem blauen Halstuch hat ihre Schwester den Tag nicht zuhause verbracht und hatte bestimmt wichtige Sachen zu tun.

Elisa freut sich schon, wenn sie auch endlich Pionier sein wird. Nur noch ein Jahr. Dann bekommt auch sie eine weiße Bluse und ein blaues Halstuch und hat wichtige Sachen zu tun.

Ein paar Monate später fragt die kleine Elisa vorsichtig bei ihrer Mutti nach, wie lange es noch dauert, bis sie auch endlich Pionierin wird. „Mein Kind, es gibt keine Pioniere mehr. Jetzt wird alles anders.“

Elisa versteht nicht recht. Also wird sie niemals Pionierin?

Sie ist enttäuscht.

Da sitzt sie nun wieder am Abendbrottisch. Ihre Schwester neben ihr, ohne Bluse und Halstuch.

Dafür sitzen auch noch zwei wunderschöne Barbie-Puppen im Brautkleid auf dem Tisch und die Kinder tragen kuschelweiche, lilafarbene Micky-Maus-Jogginganzüge. Das ist natürlich auch nicht schlecht.

Doch es soll sogar noch mehr Vorteile für Elisa haben, dass das Land, indem sie geboren wurde, mitsamt den Pionieren verschwand.

Das versteht sie aber erst 20 Jahre später, als sie mit Freunden auf dem Champ de Mars in Paris steht, wo sie inzwischen wohnt, und der majestätische Eiffelturm in den Farben ihres „neuen“ Heimatlandes Deutschland geschmückt vor ihnen emporragt und zur Feier des 20. Jahrestags nach dem Mauerfall tanzt.

Bis dahin erschien es ihr selbstverständlich. Doch beim Anblick der bewegten Menschenmassen, die doch zeitlich und örtlich so weit weg vom damaligen Geschehen sind, und des Aufwands für dieses Ereignis, das sich so ganz nebenbei in ihrem Leben abgespielt hatte, schwant ihr die große Bedeutung für ihr kleines Leben und auch das vieler anderer.

Ohne dieses geschichtliche Ereignis wäre sie nämlich bestimmt nicht hier.

Wäre sie trotzdem ausgewandert? Fragt sie sich. Nur eben in die andere Richtung, in ein Land der Sowjetunion oder vielleicht sogar nach Kuba?

Wer weiß.

Wahrscheinlich eher nicht. Dafür wäre sie vielleicht nicht so rastlos und von all den Möglichkeiten überfordert, die nun in dieser freien Welt auf sie einprasseln. Doch jetzt wird erst einmal gefeiert.

Als Überbleibsel aus diesem Land, das verschwand, fühlt sie sich hier richtig besonders. Eine, die hautnah dabei war. Naja, eine, die die Wende vom Abendbrottisch aus erlebt hat. Ihr erster Landeswechsel im Leben.

Doch nicht der letzte.

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