Das Leben geht weiter …

13. November 2015

Wir essen gerade Abendbrot als Jaime, wie so oft auf sein Handy fixiert, mir mitteilt, dass in Paris ein Terroranschlag stattgefunden hat.

Seine Infos verwirren mich, denn er erzählt vom Stade de France und dem Canal Saint Martin, die nicht gerade nah beieinander liegen.

Ich stürze zu meinem Telefon in Sorge um meine Freundinnen. 39 Nachrichten in unserer WhatsApp-Gruppe. Sie tauschen sich aus.

Michèle fragt, ob es allen gut geht. Bis auf Diana und Pauline sind alle zuhause. Die beiden sind in einer Bar. Alle schreiben, sie hätten Angst. Keiner weiß so recht, was los ist.

Ich sitze in meinem Wohnzimmersessel weit weg auf meiner Insel, habe die Straßen von Paris vor Augen und mir bleibt das Essen im Halse stecken. Sie schreiben etwas von Schießereien in den Straßen. Jaime regt sich über die Islamisten auf und seine Sprüche machen mich noch nervöser.

Ich rufe Anna an und frage, was los sei. Sie erklärt mir, es gäbe mehrere Anschläge an verschiedenen Orten in der Stadt und dass es das absolute Chaos sei, da keiner wisse, wo genau und an wie vielen Orten Attentäter unterwegs seien.

Auf Jaimes Handy lese ich im Internet, es werden Leute im Bataclan erschossen. Im Bataclan. Ich fasse es nicht. 6 Minuten Fußweg von meinem ehemaligen Zuhause, wo ich drei der schönsten Jahre meines Lebens verbracht habe, in meiner ersten eigenen Wohnung. In meinem Viertel. Ich habe die Straßen vor Augen. Straßen, durch die ich fast täglich spazierte.

Keine Neuigkeiten von Coralie. Sie ist nicht auf WhatsApp. Ich rufe sie an, doch erreiche sie nicht.

Jaime und ich gehen runter, um mit unseren Freunden aus Madrid ein Bier zu trinken. Im Treppenhaus breche ich in Tränen aus. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Bin sprachlos. Fassungslos. Weit weg und doch so nah. Die Vergangenheit holt mich ein. Ich verarbeite das nicht.

Ich beruhige mich, versuche mich zu fassen. Im Kiosk laufen die Nachrichten. Die Madrilenen reden mit uns über das Thema. Coralie ruft mich zurück. Ich breche erneut in Tränen aus. Sie ist in Sicherheit. Wirkt gefasst. Ist bei Freunden. Sie tröstet mich, obwohl sie in der Stadt ist, wo der Schrecken passiert. Wo der Ausnahmezustand ausgerufen wird und kein Mensch weiß, ob noch mehr Terroristen unterwegs sind, um wahllos Leute auf offener Straße hinzurichten.

Pauline und Diana schreiben, die Bar, in der sie sich befinden, habe die Türen verschlossen und die Gitter runtergelassen. Der Barbesitzer habe das Radio eingeschaltet, um auf dem Laufenden zu bleiben.

Mir ist übel. Ich habe pochende Kopfschmerzen. Ich verabschiede mich von den Madrilenen, gehe wieder hoch in die Wohnung und verfolge vor der warmen Heizung vom Sofa aus das Fernsehen und meine WhatsApp-Nachrichten.

1.30 Uhr berichtet das spanische Fernsehen, dass der Bataclan gestürmt wurde und die Attentäter tot seien. Mit ihnen mindestens 80 Konzertbesucher, unter denen vielleicht Menschen sind, die ich kenne.

Jetzt ist der Spuk zwei Tage her. Auf meine gestrige Lieferung habe ich von meinem Kunden noch immer keine Antwort erhalten. Das ist ungewöhnlich, doch ich hoffe, es liegt daran, dass er selbst fassungslos und nicht verletzt oder gar tot ist.

Ich komme nicht mit der Situation klar. Immer wieder sehe ich mir Videos und Zeitungsartikel mit Fotos an. Fotos von den mir so vertrauten Ecken und Straßen. Von der Umgebung, die einmal mein Zuhause war, an dem ich mich geborgen fühlte.

Es ist, als sei ein Teil von mir gestorben. Ein Teil meiner Vergangenheit. Mein Viertel, wie ich es kannte, gibt es nicht mehr. Es liegt ein großer, blutiger Schatten auf ihm.

Zwei der fünf weiteren Anschläge waren am Canal Saint Martin, ebenfalls nur 10 Minuten von meiner ehemaligen Wohnung entfernt. Mein Lieblingsort in Paris, wo ich damals noch meine Oma, als sie zu Besuch war, so stolz herumführte. Wo ich entlangspazierte, als ich erst wegen der ungewollten Schwangerschaft und dann wegen der Fehlgeburt deprimiert war und Trost in dem von Bäumen und Kopfsteinpflaster gesäumten, ruhigen Gewässer fand.

Ich lese Nachrichten im Internet. Sehe Fotos von Überlebenden und Verletzten. Auch Fotos von Menschen, die unter den Toten sind. Menschen wie meine Freunde und ich.

Es fällt schwer, sich auszumalen, wie es ihnen in den letzten Minuten und Sekunden ihres Lebens ergangen ist. Ich kann mir genau vorstellen, wie sie auf einer Terrasse in der kleinen Seitenstraße beim Martinskanal saßen und rauchten, Bier oder Wein tranken, redeten, lachten, bis in Sekundenschnelle plötzlich Krieg herrschte.

Es ist so unrealistisch. Ein ehemaliger Mitstudent von Coralie ist unter den Toten der Bar Le Carillon. Ich habe ein Video von den Menschen gesehen, die aus dem Bataclan fliehen. Wie sollen sie das jemals Überwinden? Es ist unvorstellbar und doch huschen Bilder der Imagination, wie es im Konzertsaal zugegangen sein könnte, durch meinen Kopf. Auf dem Video habe ich die Menschen in meine ehemalige Straße rennen sehen. Sie kreuzt die Straße, wo der Notausgang aus dem Bataclan liegt.

Meine Freundinnen leben in Paris. Und ein Teil von mir anscheinend auch. Ich fühle mich ihnen nah. Fühle mich plötzlich nur noch körperlich in Mallorca und in Gedanken ständig in den Straßen von Paris. Von meinem geliebten Viertel um République herum.

Ich versuche zu trauern, doch ich spüre nur einen Kloß, der mir den Atem und die Magengrube zuschnürt. Die Trauer sitzt tief in meinen Därmen. Ich kann nachts nicht schlafen. Es überrascht mich, wie sehr Paris doch in mir verankert ist. Nicht einmal Paris an sich. Eher noch die drei Jahre, in denen ich bei République wohnte. In meiner geliebten 18m2-Dachwohnung in der Rue Amelot Nummer 138.

Wie geht es jetzt weiter? Werden weitere Anschläge folgen? Sind meine Freundinnen in Gefahr? Kann ich sie wie geplant im Januar besuchen? Es bleibt abzuwarten …

Ich schreibe viel mit allen von ihnen. Das tut mir gut. Sie sind zuversichtlich. Froh, dass ihnen und ihren Freunden und Familien nichts passiert ist. Gleichzeitig haben sie Angst. Trauen sich wohl demnächst nicht mehr, irgendwo etwas Trinken zu gehen. Oder die Metro zu nehmen. Wie wird es morgen für sie sein, wenn sie wieder auf Arbeit müssen?

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Ich bin froh, dass ich nicht mehr in Paris lebe, und gleichzeitig habe ich plötzlich eine große Sehnsucht nach der Stadt. Als wäre sie ein Wesen, das verletzt wurde und Trost braucht. Plötzlich sieht die Welt anders aus. Ich brauche Zeit. Paris braucht Zeit.

Die Zeit heilt alle Wunden. Ein blöder Spruch. Die Wahrheit.

Das Leben geht weiter. Ein weiterer blöder Spruch. Ebenfalls wahr. Es ist, was es ist.

26. März 2016

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Fünf Monate nach den Attentaten in Paris flog ich endlich meine Freundinnen besuchen und überraschte Pauline zu ihrem Geburtstag. Wir trafen uns alle in einem Restaurant bei République.

In den drei Tagen meines Besuchs spazierte ich viel durch die Straßen und es fühlte sich an wie immer. Was für eine Erleichterung. Die Stadt war verletzt. Sie scheint bereits geheilt. Das hätte ich nicht gedacht.

Wenn wir angegriffen werden, fühlen wir uns schwach. Doch wir sind viel stärker, als wir geglaubt haben. Als ich geglaubt habe. Das Leben geht weiter. In einer Welt voller Ungewissheit spendet diese eine unbestreitbare, große Gewissheit mir irgendwie Trost.

2 Kommentare, sei der nächste!

  1. Nach dem Lesen Deiner Beiträge war ich auch neugierig auf die Rubrik „LESEN“.

    Die aufgeführten Bücher dort – und ich habe viele davon (teilweise mehrfach) gelesen – sind meines Erachtens sehr empfehlenswert, weil sie von authentischen und kompetenten Menschen verfasst wurden und weil sie helfen, sich „im Dschungel des Lebens“ besser zu orientieren. Eine gelungene Zusammenstellung.

    Schade das es noch keine Lesermeinung zur Erweiterung dieser „Bibliothek“ gibt…

  2. Lieber Michael, da der Blog noch ganz frisch und halb im Aufbau ist und nicht grossartig unter den Menschen verbreitet wurde, müssen wir uns noch etwas gedulden mit den bereichernden Lesetipps unserer Mitleser. Ich bin sicher, dass bald welche eintrudeln. Danke für deine Kommentare und den Austausch! Liebe Grüsse aus Mallorca! Elisa :)

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